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Wenn Sie den Riesenalk nicht kennen: Es handelt sich weder um Jean-Claude Juncker noch um Gérard Depardieu oder sonst einen vom Ischias geplagten. Der Riesenalk ist ein Vogel (Alca impennis). Und zwar einer, der nachhaltig ausgestorben wurde. Der Riesenalk ist eines der wenigen von der Erde getilgten Tiere, bei dem der genaue Tag und sogar die Tageszeit seines endgültigen Verschwindens dokumentiert ist. Es geschah am Nachmittag des 3. Juni 1844. Drei isländische Fischer machten dem letzten Paar der Vögel den Garaus. Das Ei, das noch im Nest lag, rutschte einem der Räuber aus der Hand. Das war das Ende des Riesenalks auf Island und auf der Welt.
Warum sind sie nicht weg geflogen? Ganz einfach: Sie waren zu blöd zum Fliegen. Sie hatten es verlernt, denn es war für sie nie nötig zu lernen, wie man flieht. Ursprünglich haben die Riesenalken zu Millionen auf Inseln im Nordatlantik gelebt. Ihre Brutkolonien konzentrierten sich auf flache, weit vom Festland entfernte Inseln, die von Polarfüchsen und Eisbären nur schwer erreicht werden konnten.
Seefahrer und Fischer entdeckten diese Inseln dann als Tischlein-deck-Dich. Mit der Besiedelung Nordamerikas wurde die Plünderung der Vogelinseln zu einem irrwitzigen Massaker (so viel zur guten alten Zeit). In einer Erzählung heißt es: „Wir brauchten sie nur mit Stöcken zu erschlagen, bis wir des Schlagens müde waren.“ Anschließend machte man aus dem Fett Lampenöl, unsere Vorfahren waren da ziemlich unsentimental.
Er war wohl überrascht, mich zu sehen
Ich habe ein besonderes Verhältnis zum Riesenalk, weil ich schon mal einen besucht habe. Auf Island. In einer Asservatenkammer im Naturkundemuseum von Reykjavik steht ein ausgestopftes Exemplar einsam im Regal. Er war wohl überrascht, mich zu sehen, jedenfalls guckte er ziemlich dumm aus der Wäsche. Eine Bürgerinitiative hatte ihn heim geholt. Er war 1821 gemeuchelt worden – und zwar im Auftrag der Wissenschaft. Die Sammlerkabinette in Europa waren ganz wild auf den seltenen Vogel und besiegelten so sein Schicksal endgültig. Die letzten starben für die Vitrine im Museum.
Der geneigte Leser fragt sich jetzt wahrscheinlich, was dieser ornithologische Ausflug am Sonntag soll. Keine Angst, ich schaffe es, von jedem beliebigen Thema in wenigen gedanklichen Schritten und maximal drei Leseminuten auf die deutsche Klima- und Energiepolitik zu kommen. Oder besser: Ich schaffe es nicht, nicht in kürzester Zeit auf diesen grassierenden Irrsinn zu kommen.
Vorher drehen wir aber noch eine kurze Runde durch meinen kleinen Garten. Da verlustieren sich in diesen Tagen die Amseln in einem kleinen Brunnen. Immer gut gelaunt bis leicht zänkisch. Von Aussterben kann da keine Rede sein.
Im Verlauf der Evolution sind fast immer solche Arten am erfolgreichsten, die besonders flexibel sind. Der schöne Gesang der Amsel ertönt von Tannen und von Fernsehantennen. Sie nistet in Büschen und auf Rohrleitungen. Sie findet ihre Nahrung im Wald, auf ländlichen Misthaufen, städtischem Kurzrasen und in den Vogelhäuschen der Balkone. Einige Amseln ziehen im Winter nach Süden, andere bleiben hier. „Die Amsel hat keine ökologische Nische,“ sagt der Zoologe Josef H. Reichholf.
Und damit, Bingo, sind wir bei der Politik: Das Erfolgsrezept der Amsel wäre nicht schlecht für die Zukunft unseres Landes: Anstatt sich freiwillig in einer geistigen Nische einzurichten, sollte Deutschland lieber möglichst viele Melodien pfeifen und sich auf eine offene Zukunft einstellen. Dazu gehört Aufgeschlossenheit gegenüber den verschiedensten Optionen. Man kann nie wissen, was kommt.
Manchmal so eine Art Springprozession
Der Fortschritt der Menscheit ist immer ein tastender und reversibler Weg, manchmal auch so eine Art Springprozession, zwei Schritte vor, einer zurück. Um eine gedeihliche Zukunft zu ermöglichen, müssen möglichst viele Möglichkeiten offen gehalten werden. Nichts ist alternativlos, schon gar nicht die Zukunft. Nicht Visionen zählen, sondern Zukunftsoptionen. Je mehr Möglichkeiten die Menschen haben, desto besser.
Vielleicht wollen unsere Enkel die Autos abschaffen oder die Atomenergie wieder einführen. Sollen sie. Wir sollten ihre Freiheit, selbst zu entscheiden, nicht einschränken, indem wir Optionen zerstören und unumkehrbare Entscheidungen treffen. Und deshalb ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Zukunft offen bleibt. Denn es gibt einen Typus Visionär (in Deutschland ist er besonders häufig), der seine Vision politisch festzurren will, damit die Zukunft schön brav seiner visionären Blaupause folgen muss. Deutschland erscheint derzeit wie ein Heer, das auf dem Weg nach Nirgendwo sämtliche Brücken hinter sich abbricht, damit kein Rückzug mehr möglich ist. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht als flugunfähiger Riesenalk im Topf enden.
Für Visionäre, die die Wahrheit gepachtet haben, besteht eine ordentliche Zukunft in der Fortschreibung ihrer jeweiligen Lieblingskonzeptionen aus der Gegenwart. Mit dem Horizont von heute wollen sie das Morgen bis ins Detail planen. So entstehen Windrad-Monokulturen und Fahrrad-Autobahnen. Und damit die Zukunft nicht auf dumme Gedanken kommt, rufen sie nach mehr Verboten, mehr Kontrolle, mehr Institutionen. Atomenergie: Verboten. Kohlekraft: Verboten. Verbrennungsmotor: Verboten. Grüne Gentechnik: Verboten. Fracking: Verboten. Moderne Landwirtschaft: Verboten. Und so weiter und so fort.
Die gegenwärtige Debatte um Umwelt, Klima und Energie ist ein Musterbeispiel dafür, wie mögliche Zukunftsoptionen systematisch beseitigt werden. Alles, was nicht in die gefühlige Erzählung von „sanfter“ Technik passt, gilt als schlecht und soll am besten verboten werden. Ich will ja gar nicht sagen: Alle oben aufgezählten Beispiele sind gut. Ich will nur sagen. Das Gegenteil von schlecht muss nicht gut sein. Es kann auch noch schlechter ein. Das stellt gerade die deutsche Energiewende unter Beweis.
Wenn man in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze sucht
Mit trockenem Spott könnte man die Basis unserer gegenwärtigen Politik auch in folgendem Bild beschreiben: Was ist Wissenschaft? Antwort: Wenn man in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze sucht. Was ist Religion? Wenn man in einem dunklen Zimmer eine Katze sucht, die nicht da ist. Was ist Ideologie? Wenn man jeden einsperrt, der darauf hinweist, dass sich in dem dunklen Zimmer gar keine Katze befindet. Was ist Politik? Wenn jemand in einem dunklen Zimmer nach einer Katze sucht, die nicht da ist, und ruft: „Ich habe sie!". Was ist Klima-Politik? Wenn jemand in einem dunklen Zimmer nach einer Katze sucht, die nicht da ist, und ruft: „Sie ist schuld‘“.
Aber zum Glück hält sich das wahre Leben nicht an die politischen Vorgaben. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Wirklich fundamentale Veränderungen kommen oft auf leisen Sohlen. Oder sie pirschen durch die Hintertür. Anti-Baby-Pille und Personalcomputer haben die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker verändert als alle Parteiprogramme zusammen. Das konnte weder der Papst mit seinem Pillenverbot verhindern noch die deutschen Grünen, die auf einem Parteitag 1986 den totalen Boykott von Computern beschlossen.
Und vergessen wir nicht einen Herrn namens Gorbatschow, den kein Mensch auf der Rechung hatte. Die meisten Vorhersagen kranken schlicht daran, dass Gegenwartstrends einfach in die Zukunft hochgerechnet wurden. Egal ob Rohstoffverknappung, Waldsterben, Atomstaat, Bevölkerungsexplosion oder rasender Artentod, kein einziges Endzeitszenario der siebziger und achtziger Jahre trat ein. Die mit viel Theaterdonner publizierten Prophezeiungen des Club of Rome, des Worldwatch Instituts und anderer Expertengremien floppten und wurden schnell wieder vergessen. Kaum zu glauben, dass die jungen Leute von Fridays for Fuiture sie wieder hervorkramen. Aber auch das wird vorübergehen. Stanislav Jerzy Lec hätte ihnen entgegen gehalten: „Erwartet euch nicht zuviel vom Weltuntergang”.
Ohne einen geeigneten Landeplatz
Es ist hierzulande auf fast allen Gebieten – besonders aber auf dem der Politik – üblich geworden, mit den ganz großen Entwürfen zu entschweben, ohne einen geeigneten Landeplatz zu kennen. So etwas nennt man, wenn man es gut meint, mitunter auch Idealismus. Der ist gut und schön, hat aber seine Tücken. „Wenn der Teufel Menschen in Verwirrung bringen will, bedient er sich dazu der Idealisten”, wusste schon Niccolò Machiavelli. Unter dem Glauben an visionäre Endzustände tun Weltretter und Durchblicker es nicht, wer auf den tastenden Fortschritt setzt, ist ein Spießer.
Selbst wenn Zukunftsplaner alle Einflussgrößen des Fortschritts bedenken, selbst wenn große gesellschaftliche Mehrheiten sich über die anzustrebenden Ziele und die den Entscheidungen zugrunde liegende Werte einig sind (was höchst unwahrscheinlich ist), wird sich die Evolution der menschlichen Gesellschaft dennoch nicht vorausberechnen lassen.
Die Zukunft wird voller Überraschungen sein: sozialen, kulturellen und technischen. Sie wird als Ergebnis von Versuch und Irrtum gestaltet, entwickelt von zahllosen Individuen, die ihre Lebenssituation verbessern wollen. Diese Menschen werden die Welt verändern und nicht das Zukunftsprogramm irgend einer politischen Partei. Die kollektive Intelligenz freier Menschen schlägt auf Dauer jeden staatlichen Lenkungsversuch.
Bislang sind alle Versuche, einen hypothetischen paradiesischen Endzustand durch zentrale Planung erreichen zu wollen, furchtbar gescheitert. Anstatt große Visionen zu entwerfen, sollte man auf den Erfindungsreichtum der Menschen vertrauen, auf Selbstverantwortung und vor allem auf die Freiheit. Je mehr diese eingeschränkt wird, desto unwahrscheinlicher ist es, die Zukunftsprobleme zu lösen. Schlagt nach bei Thomas Jefferson: „Nur der Irrtum bedarf der Stütze durch die Regierung, die Wahrheit steht auf eigenen Füßen“.
Quelle: Dirk Maxeiner / 07.07.2019 / 06:27