Oct 20âą12 min read
Eine Expertengruppe von renommierten Medizinern und Gesundheits-Fachleuten warnt Bund und LĂ€nder davor, die Bevölkerung mit immer neuen Drohungen â darunter einen Lockdown â zur Disziplin zwingen zu wollen. Sie fordern einen Kurswechsel. Es ĂŒberwiege der Eindruck, âdass die Verantwortlichen auf den immergleichen Vorgehensweisen beharren und MaĂnahmen sogar noch verstĂ€rken, an deren Wirksamkeit und Akzeptanz es aus wissenschaftlicher Sicht gröĂte Zweifel geben mussâ. Das fĂŒhre zur âAbwendung und Flucht in falsche Heilslehren, aber nicht zu einer Verbesserung der Wirksamkeit der vorgeschlagenen bzw. angeordneten MaĂnahmenâ. Hier die Stellungnahme im Wortlaut:
Ad hoc-Stellungnahme
Die Autorengruppe ergÀnzt anlÀsslich der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den MinisterprÀsidentinnen und MinisterprÀsidenten der LÀnder vom 14.10.2020 ihre vier Thesenpapiere um eine dringliche ad hoc-Stellungnahme
Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 â Gleichgewicht und AugenmaĂ behalten
Das Ergebnisprotokoll der Konferenz von Bundeskanzlerin, MinisterprĂ€sidentinnen und MinisterprĂ€sidenten vom 14.10.2020 (Anonymous 2020, Im Verlauf abgekĂŒrzt als Bkin/MP/innen-Konferenz) veranlasst die Autorengruppe, mit einer dringlichen ad hoc Stellungnahme auf besorgniserregende Fehlentwicklungen hinzuweisen. Diese Fehlentwicklungen betreffen alle drei Sachgebiete, zu denen sich die Autorengruppen in ihren vier bisherigen Thesenpapieren bislang geĂ€uĂert hat: Epidemiologie, PrĂ€ventionskonzept und gesellschaftspolitische Implikationen. In den bisherigen Thesenpapiere, die streng analytisch strukturiert waren, wurde herausgearbeitet, dass
In den BeschlĂŒssen der Bkin/MP/innen-Konferenz (Anonymous 2020) kann die Autorengruppe allerdings keine Fortentwicklung des VerstĂ€ndnisses fĂŒr die Eigenheiten dieser Epidemie und fĂŒr die Anforderungen an Steuerungsparameter sowie die Kommunikation deren Ergebnisse erkennen. Stattdessen ĂŒberwiegt der Eindruck, dass die Verantwortlichen auf den immergleichen Vorgehensweisen beharren und MaĂnahmen sogar noch verstĂ€rken, an deren Wirksamkeit und Akzeptanz es aus wissenschaftlicher Sicht gröĂte Zweifel geben muss:
In dieser ad hoc-Stellungnahme sei in Vorgriff auf ein fĂŒnftes Thesenpapier nur noch ein einziger Punkt herausgegriffen, der von eminenter Bedeutung ist, und von der Frage der Grenzwerte seinen Ausgang nimmt, die zur Steuerung der MaĂnahmen eingesetzt werden. Im Beschluss der Bkin/MP/innen-Konferenz (Anonymous 2020) wurde faktisch eine VerschĂ€rfung auf 35/100.000 Einwohner vorgenommen. Es soll nicht in Zweifel gezogen werden: Ein erfolgreiches Krisenmanagement bedarf verstĂ€ndlicher und transparenter Zahlen. Wie spĂ€ter noch darzustellen sein wird, mĂŒssen solche Zahlen jedoch valide und reliabel (zuverlĂ€ssig) sein: valide insofern, als dass sie ein Problem richtig erkennen, reliabel als dass sie zuverlĂ€ssig zu erheben sind. Die wissenschaftlichen Daten zur ValiditĂ€t lassen sich hier schnell zusammenfassen: es gibt keine Daten, die aussagen, dass mit einem Grenzwert von x/100.000 Einwohner ein positiver Verlauf der Epidemie oder eine erfolgreiche Intervention verbunden ist. Trotzdem kann man natĂŒrlich mit solchen Zahlen arbeiten, vielleicht muss man sie unter dem Druck der Ereignisse sogar einfach setzen â aber was auf keinen Fall zu tolerieren ist, ist eine schlechte ReliabilitĂ€t, also eine mangelnde StabilitĂ€t gegenĂŒber Mess- und Erhebungsfehlern.
Diese MĂ€ngel in der ZuverlĂ€ssigkeit der Erhebung (ReliabilitĂ€t) geben Anlass zu gröĂten Bedenken, vor allem, wenn man sich die Konsequenzen vor Augen fĂŒhrt, die mit einem Ăberschreiten der Grenzwerte verbunden sind. ZunĂ€chst scheint das Vorgehen ja völlig einleuchtend: Die Grenzwerte werden berechnet, indem man die erkannten Neuerkrankungen zĂ€hlt (derzeit rund 25.000 pro Woche bei einer Million Teste â Beispiel zur Illustration, die realen Werte können geringfĂŒgig abweichen â, entspricht einer PrĂ€valenz von 2,5%) und sie in Deutschland auf die gesamte Bevölkerung von 83 Mill. Personen umlegt (macht rund 300 PCR+ Befunde pro 1 Mill. oder 30/100.000). Von der Gesamtbevölkerung sind also 1 Mill. getestet, 82 Mill. sind nicht getestet. Dieses zunĂ€chst eingĂ€ngige Vorgehen hat nur einen Haken: Man setzt bei der Umrechnung voraus, dass unter den 82 Mill. nicht getesteten Einwohnern im gleichen Zeitraum keinerlei Infektionen aufgetreten sind, eine Annahme, die sicher nicht der RealitĂ€t entspricht. Es lĂ€sst sich nun einfach darstellen (Zahlen hier nicht gezeigt), dass die tatsĂ€chliche HĂ€ufigkeit von Neuinfektionen praktisch ausschlieĂlich von der âDunkelzifferâ in der nicht-getesteten Population bestimmt wird und daher die Zahl âx/100.000â keinerlei praktische Wertigkeit hat (und damit auch keine ValiditĂ€t, denn nicht reliable Grenzwerte sind â ein Grundsatz der Messmethodik â in keinem Fall valide). Allerdings sind nicht nur die verwendeten Grenzwerte Makulatur, also weder reliabel noch valide, sondern dieser Missstand basiert auf einem grundlegenden konzeptionellen Problem, nĂ€mlich dass wir mit unseren anlassbezogenen Testungen ĂŒber den Kreis der neu als infiziert erkannten Personen hinaus irgendwelche reliablen und validen Informationen ĂŒber den Stand der asymptomatisch ĂŒbertragenen Epidemie in der Gesamtbevölkerung gewinnen können. Wir gewinnen vielleicht Anhaltspunkte, aber keine verlĂ€sslichen Werte, die eine sinnvolle Steuerung erlauben. Dagegen wird von offizieller Seite mit dem Begriff der â7-Tage-Inzidenzrateâ insinuiert, man wĂŒsste ĂŒber die neu aufgetretenen Infektionen genau Bescheid. Das mag bei Gehirntumoren oder bei der Akuten Myeloischen LeukĂ€mie stimmen (die Neuerkrankungen pro Jahr sind bekannt), aber dort sind asymptomatische VerlĂ€ufe extrem selten, und Patienten mit diesen Neoplasien stecken sich mit ihrer Erkrankung auch nicht in der Bevölkerung an. Aus diesen Beispielen ist jedoch ersichtlich, in welcher Denktradition die politische Berichterstattung steht: die Erfassung als statisches Konstrukt, ohne die wesentlichen Charakteristika des zu messenden Problems (hier: asymptomatische Ăbertragung auĂerhalb der Stichprobe) zu berĂŒcksichtigen.
Man kann diese Problematik als hermeneutischen Tunnelblick verstehen, der keine anderen Informationen mehr zulĂ€sst. Leider hat dieses VerstĂ€ndnis jedoch enorme Konsequenzen â und umso unverstĂ€ndlicher ist es, dass es immer noch keine Kohortenuntersuchungen gibt, die das Fortschreiten der Epidemie in der Bevölkerung beschreibt, und zwar nicht allein mit Antikörperbestimmungen, sondern mit der derzeitigen Standardmethode, der PCR. Hier muss man von einem schweren VersĂ€umnis der zustĂ€ndigen Bundesoberbehörde und der verantwortlichen politischen Stellen sprechen. Die Situation ist dringlich, denn wenn man die Zahlen zur ansteigenden TestprĂ€valenz zur Kenntnis nimmt (in Deutschland von unter 1% auf 2,5%, in Frankreich bis 12%, in Spanien bis 20%) â was sagen uns diese Zahlen?
Diese Informationen können nur bedeuten, dass sich die Epidemie in der Bevölkerung trotz aller EinschrĂ€nkungen praktisch ungehemmt ausbreitet. Eine beratungsoffene Regierung könnte hier mit einem neuen Briefing, einem neuen Narrativ ansetzen: Mit der Epidemie mĂŒssen wir leben, sie wird im Winter deutlich zunehmen, lasst uns die MitbĂŒrger und MitbĂŒrgerinnen, die sich in besonderer Gefahr befinden, schĂŒtzen und optimal versorgen. Und man könnte eine einfache Modellierung vornehmen: wie lange braucht eine Population bei einer zweistelligen PrĂ€valenz, um einen respektablen ImmunitĂ€tsstatus zu erreichen. Diese Modellierung könnte man auf die Metropolen beschrĂ€nken usw., in jedem Fall wĂ€re dies ein gangbarer Weg, der Bevölkerung eine Perspektive aufzuzeigen, und ein Ende der Krise ist prognostizierbar. Denjenigen, die gleich mit den Gefahren, die z.B. fĂŒr die JĂŒngeren bestehen, argumentieren (ohne selbst glaubwĂŒrdige Konzepte zu besitzen), sollten empirische Belege fĂŒr ihre Argumente erbringen. Eine Epidemie ist eine ernsthafte Sache, der Schutz der Verletzlichen sollte eigentlich eine SelbstverstĂ€ndlichkeit sein, und in einer Krisensituation hat man dort anzusetzen, wo der dringendste Handlungsbedarf besteht. In jedem Fall gilt: Die Risikovorsorge durch gezielte PrĂ€vention vulnerabler Gruppen und Institutionen ist die Alternative zur Drohung mit einem zweiten Lockdown.
Thesenpapiere
Thesenpapier 1.0: Schrappe, M., Francois-Kettner, H., Gruhl, M., Knieps, F., Pfaff, H., Glaeske, G.: Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19. Datenbasis verbessern, PrĂ€vention gezielt weiterentwickeln, BĂŒrgerrechte wahren. Köln, Berlin, Hamburg, Bremen 5.4.2020, Monitor Versorgungsforschung,e,
Thesenpapier 2.0: Schrappe, M., Francois-Kettner, H., Knieps, F., Pfaff, H., PĂŒschel, K., Glaeske, G.: Thesenpapier 2.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19. Datenbasis verbessern, PrĂ€vention gezielt weiterentwickeln, BĂŒrgerrechte wahren. Köln, Berlin, Hamburg, Bremen 3.5.2020,
Thesenpapier 3.0: Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Pfaff, H., PĂŒschel, K., Glaeske, G.: Thesenpapier 3.0 zu SARS-CoV-2/COVID-19 - Strategie: Stabile Kontrolle des Infektionsgeschehens, PrĂ€vention: Risikosituationen verbessern, BĂŒrgerrechte: RĂŒckkehr zur NormalitĂ€t. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 28.6.2020, Monitor Versorgungsforschung,
Thesenpapier 4.0: Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., PĂŒschel, K., Glaeske, G.: Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 - der Ăbergang zur chronischen Phase. Verbesserung der Outcomes in Sicht; Stabile Kontrolle: WĂŒrde und HumanitĂ€t wahren; Diskursverengung vermeiden: Corona nicht politisieren. Als Thesenpapier 4.1 hier.
Allgemeine Literaturhinweise:
Anonymous 2020: Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der LÀnder am 14. Oktober 2020. Beschluss, TOP BekÀmpfung der SARS-Cov2-Pandemie
Autorengruppe:
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, UniversitÀt Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des SachverstÀndigenrates Gesundheit
Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des AktionsbĂŒndnis Patientensicherheit, Berlin
Dr. med. Matthias Gruhl, Arzt fĂŒr Ăffentliches Gesundheitswesen, Bremen
Prof. Dr. jur. Dieter Hart, Institut fĂŒr Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht, UniversitĂ€t Bremen
Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin
Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow, UniversitÀt Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, UniversitĂ€t Köln, Zentrum fĂŒr Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds
Prof. Dr. med. Klaus PĂŒschel, UniversitĂ€tsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut fĂŒr Rechtsmedizin
Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, UniversitÀt Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im SachverstÀndigenrat Gesundheit
Quelle hier