Mar 24•12 min read
Zwanzig Jahre ist es inzwischen her, dass der WWF Deutschland mich bat, für ein voluminöses Coffeetable-Buch („Zu neuen Ufern") einen langen Essay über die untergehenden Inseln der Südsee zu schreiben. Ich war guter Dinge, genügend Beispiele und Berichte zu finden darüber, wie sehr der Pazifik bereits an den so flachen Atollen nagt, gewiss auch über bereits verlassene Ortschaften oder Inseln. Man hörte ja so Vieles, so Schlimmes über den Meeresspiegelanstieg wegen des menschengemachten Klimawandels.
Internet, Emails oder gar Skype-Telefone waren zu der Zeit noch nicht so ausgeprägt. Doch schon die ausführliche Telefonrecherche kreuz und quer durch Polynesien, Gespräche also mit potenziell Betroffenen und ja doch wohl an Öffentlichkeit interessierten Quellen zeigten mir: Es gab da nichts. Null, keine Insel, keine Ortschaft, kein Haus war vom steigenden Meeresspiegel verschluckt. Abgesehen von üblicher Erosion am Strand, verstärkt durch frevelhaften Sand- und Kiesabbau für neue Häuser. Ich war enttäuscht.
Der Weltuntergang war also doch ausgefallen. Noch. Und entsprechend fiel dann auch die Geschichte aus: Ich verlegte mich auf Warnungen, dass man wachsam sein müsse, dass der Meeresspiegel irgendwann in fernerer Zukunft mal die ersten Inseln überschwemmen könnte, ich zitierte Experten und eine Reihe von Bewohnern, schrieb auf, was sie mir über ihre Situation erzählten. Ansonsten half ich mir mit literarisch-historischen Quellen: Stevenson, Jack London, Melville, die allesamt von der schon immer gegebenen Verletzlichkeit flacher Ozeaninseln berichteten, auch von ihrem Verschwinden in vergangenen Jahrhunderten. Die Geschichte wurde trotzdem gedruckt, ich meine, sie war gelungen, auch so, ohne Weltuntergang.
Und dennoch: Was hätte ich damals dafür gegeben, eine solche Situation schildern zu können, wie sie der Spiegel-Reporter Claas Relotius vor wenigen Wochen vorgefunden hatte, offenbar vor Ort, in der Südsee. Was er alles zu schreiben vermochte über drei Orte, die im Inselstaat Kiribati seit Jahrhunderten auch noch europäische Namen trugen – und jetzt tatsächlich untergegangen sind. Da passte einfach alles, fast zu schön, um wahr zu sein. Beneidenswert.
In der langen Titelgeschichte des Spiegel am 1. Dezember 2018 konnte man über diese drei Orte auf dem Atoll Kiritimati, das zu Kiribati gehört, dies hier lesen:
„Und jetzt standen London, Paris, Polen zur Hälfte unter Wasser. Wellen erhoben sich auf der einen Strandseite und fielen, so wenig Land war übrig, auf der anderen wieder ins Meer. Die Seedeiche, die Wellenbrecher aus Mangroven und die Schutzmauern aus Beton hatten nicht gehalten, die Bewohner hatten ihre Häuser aufgegeben und ihre Heimat dem Ozean überlassen: London, Paris und Polen sind untergegangen".
Dramaturgisch hingeführt auf diese Untergangsszene hatte Relotius noch mit einer anrührenden Anekdote:
„Vor ein paar Wochen stieg Ioane Teitiota, Bewohner der Inselrepublik Kiribati, eines der entlegensten Staaten der Erde, in ein Fischerboot und fuhr gemeinsam mit sechs anderen Männern zum Verwandtenbesuch nach London, Paris und Polen. Die Überfahrt dauerte acht Tage. Als sie ankamen, waren London, Paris und Polen so gut wie menschenleer."
Auf jenen Teitiota werden wir hier noch zurückkommen. Doch zunächst mal sind wir ja doch vom Hocker gerissen von dieser Symbolkraft. Auch noch die europäischen Namen Paris, London, Polen, ein Menetekel dafür, was mit den beiden Millionen-Metropolen und dem gesamten ostmitteleuropäischen Land, mit uns allen dereinst geschehen wird, wenn die Menschheit nicht innehält. Deshalb die ständige Wiederholung: London, Paris, Polen. Als hätte der Herrgott selbst die Wellen über genau diese Ortschaften geführt, nur um Relotius zu leiten und die Spiegelleser in den fernen, für all dies verantwortlichen Ländern wachzurütteln.
Leider war nichts davon wahr, alles erstunken und erlogen. Der Spiegel-Reporter selbst war es, der da Herrgott gespielt hatte.
Nun weiß man ja, dass die Spiegel-Chefredaktion derzeit sich selbst als großen Aufklärer des Relotius-Skandals feiert. Die Redaktion hat jetzt auch zugegeben: Die Geschichte war erfunden. Und doch setzt der Spiegel auch hier wieder die große Lüge vom Weltuntergang fort, im Endeffekt durch Suggestion, jedenfalls durch besonders geschickte – oder besonders fahrlässige Wortwahl. Der Spiegel kann es nicht lassen. Immer noch nicht.
Der Spiegel schrieb: „Relotius behauptet im Text unter anderem, die drei Orte London, Polen und Paris auf dem Atoll Kiritimati seien überschwemmt und ‚so gut wie menschenleer‘. Als Siedlung aufgegeben wurde jedoch nur Paris – Polen und London sind nach wie vor bewohnt. London ist mit fast 2000 Einwohnern sogar die zweitgrößte Stadt des Atolls." Klingt ehrlich, suggeriert aber in diesem Zusammenhang nahezu zwingend, dass immerhin eine Siedlung wegen des Meeresspiegelanstiegs aufgegeben wurde, Paris nämlich. Wieder falsch.
Es ist schon erstaunlich, wie rotzfrech – oder sträflich nachlässig – der Spiegel jeden Hinweis darauf unterlässt, dass es kein einziges Anzeichen darauf gibt, dass „Paris" wegen des steigenden Meeresspiegels verlassen wurde. Untergegangen ist es jedenfalls nicht. Dieses Video hier zeigt einen Ausflug von Freizeitseglern, die die Stelle, an dem einst dieser heute verlassene Ort stand, besuchten, um dort Fische zu grillen. Dabei fällt nicht nur auf, dass das Atoll an der Stelle so hoch liegt wie zehntausende andere, nach wie vor fröhlich bewohnte Atolle im gesamten Pazifik. Noch erstaunlicher ist es, dass hier nirgendwo irgendwelche Überreste einer früheren Siedlung zu sehen sind. Wann wurde jenes Paris eigentlich verlassen?
Offenbar geschah dies schon vor geraumer Zeit. So lange her ist es, dass man wohl nur noch Vermutungen anstellen kann. Der Autor des Wikipedia-Eintrags über „Paris, Kiribati„ geht jedenfalls davon aus, dass Paris aller Wahrscheinlichkeit irgendwann wegen eines fehlenden nahen Ankerplatzes in der Lagune aufgegeben worden war. Andere Hinweise gibt es nicht. Die Bewohner seien wohl alle ins nahe „London" gezogen, auf gleicher Höhe. Darauf nicht hingewiesen zu haben, zeigt: Der Spiegel ist so offenbar bemüht, wenigstens das inhaltliche Anliegen von Relotius als richtig dastehen zu lassen. Dabei war es genauso falsch wie seine Methode. Der innere Kompass, den Relotius beim Spiegel erworben hatte, ihn wollte man ‚auf Richtung‘ belassen.
Der Spiegel muss nun auch eingestehen, dass Relotius gar nicht in der Südsee gewesen sei. Er kam nur bis nach Los Angeles, „den gebuchten Weiterflug nach Kiribati hat er jedoch nicht angetreten. Die Motelbuchung für Kiribati hatte Relotius kurzfristig per Mail storniert, es gab zu diesem Zeitpunkt auch keinen direkten Kontakt zu ihm."
Wie gut für Relotius, dass er nicht zu erreichen war. Womöglich hätte er ansonsten einen Anruf von einem Spiegel-Dokumentar erhalten, der vielleicht auch schon mal auf dem einen oder anderen Pazifik-Atoll war. „Mangroven" – da hätte sich zumindest eine Nachfrage gelohnt, die sind ozeanseitig auf den Atollringen der Region nämlich lange nicht so verbreitet, wie gemeinhin angenommen, dort regiert die Kokospalme. Und wenn der Reporter von „Seedeichen" schrieb, so mag dies für einen nordsee-affinen Dokumentar in Hamburg plausibel erscheinen, für die Südsee nicht. Wollte man auf den schmalen Atollen regelrechte Seedeiche anlegen, dann bliebe auf den schmalen Streifen aus Korallenkies zum Leben noch weniger Land übrig, als Relotius in seiner Ferndiagnose ja festgestellt haben wollte. Und „Schutzmauern aus Beton"? Auf den Atollen? Es gibt nichts, was es nicht gibt, aber ich hätte da schon mal angerufen.
Doch darum geht es mir eigentlich gar nicht, längst nicht allein um die Spiegel-Dokumentation. Denn was den Inselstaat Kiribati angeht und seinen angeblichen Untergang, da kann man fast die gesamte deutsche – und soweit zu überschauen auch die internationale – Presse in einen Topf werfen. Und hier kommen wir gleich auch wieder auf jenen Herrn Teitiota zurück.
Kaum ein Land eignet sich besser als Kiribati (übrigens „Kiribas" ausgesprochen), um den Untergang der Inselwelt zu thematisieren. Er ist, wenn wir die Seefläche mitzählen, einer der größten Staaten der Welt, und was die reine Landfläche angeht, einer der kleinsten. Es wohnen – deshalb sehr weit verstreut – nur gut 100.000 Menschen dort. Die Inselwelt besteht fast nur aus flachen Atollen. Und, das tollste: Er ist sehr weit weg, kaum jemand war schon mal da, und kennt man auch kaum jemand, der einen kennt… Es ist mithin eine Parallelwelt, über die man nach Belieben Behauptungen aufstellen kann. Eine Stichprobe bei Google „Kiribati Untergang" zeigt dies deutlich genug.
So nahm es auch nicht wunder, als die gesamte gutmeinende Presse vor fünf, sechs Jahren zur Kenntnis nahm, dass jener Ioane Teitiota – wohnhaft auf dem Tarawa-Atoll in Kiribati – beantragte, als erster Umweltflüchtling der Welt anerkannt zu werden. Unter Berufung auf die UN-Flüchtlingskonvention wollte er in Neuseeland Asyl erhalten. Sein Land sei auf die Dauer nicht mehr bewohnbar, einige Regionen seien bereits unbewohnbar, wegen des steigenden Meeresspiegels. Der Klimawandel sei schuld.
Kleine Nebenbemerkung: Wenn man Relotius hätte glauben wollen, dann hätte ja ausgerechnet dieser Herr Teitiota das alles eigentlich gar nicht mitbekommen. Er war doch (siehe oben) völlig überrascht, als er nach „acht Tagen" Überfahrt mit seinem „Fischerboot" plötzlich merkte, dass „Paris" untergegangen ist. Was für ein Zufall also – und wie daneben –, dass der Herr Relotius ausgerechnet auf diesen Herrn Teitiota als Protagonist gestoßen war. Aber sich selbst einen Namen aus Kiribati ausdenken, schien ihm wohl einfach zu riskant, die Schreibweise, und so weiter... Wie gut, dass da der Herr Teitiota bei google so oft vorkam, wegen seines Prozesses, der überall auf Sympathie gestoßen war, den kann man nehmen, dachte sich da wohl der Herr Relotius. Er meinte es ja auch nur gut mit ihm. Dass die Spiegel-Dok den Namen Teitiota mal kurz googeln könnte, diese Gefahr war offenbar nicht zu befürchten.
So oder so: Der Richter in Neuseeland lehnte Teitiotas Begehr ab. Aus formalen Gründen. Dabei hätte er dafür auch gute sachliche Gründe gehabt. Und damit zum eigentlichen Thema: Die Inseln von Kiribati gehen gar nicht unter, sie wachsen eher deutlich oder bleiben gleich groß.
Die beiden Geowissenschaftler Arthur P. Webb und Paul S. Kench aus Neuseeland und Fidschi haben vor Jahren in einer aufsehenerregenden Studie festgestellt, dass von 27 kiribatischen Inseln im zentralen Pazifik in den letzten drei bis fünf Jahrzehnten nur ein geringer Anteil überhaupt Land ans Meer verlor, nämlich 14 Prozent (Zusammenfassung). Ein Vergleich von Luftbildern von damals und heute waren der untrügliche Beweis: Bei 43 Prozent der Inseln sei die Landfläche stabil, bei ebenfalls 43 Prozent sogar deutlich gewachsen.
Teitiota ist nicht der erste Polynesier, der mit dem Argument eines steigenden Meeresspiegels das Aufenthaltsrecht in einem anderen Land begehrte. Zuvor schon hatte sich der australische Flüchtlingsrat bei seiner Regierung dafür stark gemacht, sie möge Klimaflüchtlinge als eine neue Kategorie von Asylbewerbern offiziell einführen und anerkennen. Als Protagonisten präsentierte der Rat Toani Benson, ebenfalls Einwohner von Kiribati. Er wohnt auf der Insel Betio, die zu Tarawa, dem Hauptatoll des Staates, gehört und wurde auf Fotos öffentlichkeitswirksam bis zu den Knien im Wasser präsentiert.
Mal abgesehen von dieser reichlich überplakativen bis falschen Inszenierung: In seiner Heimat können sie Benson dabei kaum fotografiert haben. Betio zählt nämlich zu den Inseln, die deutlich gewachsen sind. Und das gilt auch für das gesamte Atoll, Tarawa – der Heimat jener Allzweckwaffe in Sachen Untergang, Ioana Teitiota. Übrigens: Auch Kiritimati geht nicht unter, obwohl es doch so schön gewesen wäre, mit „Paris", „London" und „Polen". Es hilft aber nichts: Kiritimati gilt „als ein sich im „Heben" befindliches Atoll". Wie eben viele andere Südseeatolle, die seit Millionen Jahren mit dem Meeresspiegel nach oben oder unten mitwandern, durch das Korallenwachstum, durch Ablagerungen, Anschwemmungen. Nach wie vor, zuletzt dokumentiert durch Luftbilder.
Wozu also der ganze Zauber? Natürlich wird der Untergang in Szenen gesetzt, um die Dramatisierung voranzutreiben, im Klimazirkus, bei der UN, in der Wissenschaft, in der Zivilgesellschaft der unzähligen NGOs, bei denen sicher eine Reihe zusätzlicher Etats, Spenden und Planstellen anstehen, wenn erst der erste Klimaflüchtling als solcher amtlich anerkannt ist und die entsprechende Bürokratie aufgebaut wird.
Aus den betroffenen Inselstaaten dürfte – auch wenn sie größer werden und steigen – zu allerletzt Entwarnung kommen. Die Mitglieder der Alliance of Small Island States (AOSIS) wollen internationale Gelder generieren, um sich Land in anderen Staaten einzukaufen und überhaupt unterstützt zu werden. Kiribati ist übrigens dabei, sich schon mal Liegenschafen in Fidschi zu sichern, 25 Quadratkilometer, für alle Fälle. Auch wieder passend: Weil die Medien hierzulande immer gern plakative Beispiele bieten, würdigten sie während des letzten Klimagipfels in Kattowitz im Dezember einen Staat – nur weil viele Vertreter von ihm da waren – ganz besonders als vom baldigen Untergang betroffen: Fidschi. Wo man aus Kiribati gerade hinziehen will. Egal, Hauptsache der Untergang hat ein Bild. Oder auch zwei, sich widersprechende. Egal. Wen kümmerts? Keinen.
Jetzt mal allen (aufgrund der öffentlichen Behandlung des Themas aber auch mal nötigen) Zynismus beiseite geschoben: Die Südseeatolle haben große Probleme, keine Frage. Immer dann, wenn man sich in der Diskussion soweit vorgearbeitet hat, dass der tatsächliche Untergang in Wahrheit erst einmal nicht ansteht, kommen die – tatsächlich – versalzenden Trinkwasserreserven zur Sprache, quasi als Vorboten des Untergangs, weil das Salzwasser in die Brunnen eindringt. Dass das allerdings in erster Linie durch den Meeresspiegelanstieg geschieht, ist stark zu bezweifeln. Schließlich steigen die – oder: viele – Inseln ja mit.
Unumstritten ist allerdings das äußerst problematische Bevölkerungswachstum auf den Inseln, deren Tragfähigkeit dadurch fast überall längst überrissen ist. Entsprechend steigt die Wasserentnahme, und wo das vorhandene Süßwasser aus dem Regen zu schnell verschwindet, dort drückt das Salzwasser nach. Insofern ist die Überlegung von Umsiedlungen gar nicht mal ganz verkehrt.
All diese Probleme gilt es anzupacken. Aber nicht mit den falschen Argumenten und falschen Etikettierungen („Klimaflüchtling"). Schon gar nicht mit erlogenen Geschichten in großen Nachrichtenmagazinen. Und in vielen anderen Zeitungen auch, die nur allzu gern gegenseitig voneinander abschreiben – Stichwort: Kiribati.
Quelle: Ulli Kulke / 27.01.2019 / 06:27
ACHTUNG: Wissenschaftliche Studien, die diesen Artikel stützen, sind für Kiribati und Tuvalu schon länger verfügbar.