„Lockdown verschiebt Tote in die Zukunft“

Johan Giesecke ist einer der renommiertesten schwedischen Epidemiologen. Er berät die schwedische Regierung und die Weltgesundheitsorganisation. Lockdowns hält er für sinnlos, die Ausbreitung des Coronavirus einzuschränken für hoffnungslos. Politiker wollen die Pandemie ihm zufolge nützen, um sich zu profilieren und setzen Maßnahmen um, die wissenschaftlich kaum belegt sind.

Professor Giesecke, Österreich erwacht gerade aus einem mehrwöchigen Lockdown. Was halten Sie davon, dass Österreich und viele andere Länder auf der Welt Lockdowns vollzogen haben? Warum hat Schweden einen anderen Weg eingeschlagen?

Wir haben früh entschieden, dass wir nur evidenzbasierte Maßnahmen anwenden sollten. Es gibt nur zwei Maßnahmen, die wirklich eine wissenschaftliche Grundlage haben. Eine ist, sich die Hände zu waschen. Dass das nützlich ist, wissen wir seit der Arbeit von Ignaz Semmelweis vor 150 Jahren. Das andere ist Social Distancing, da ist auch bewiesen, dass es wirkt. Diese beiden Dinge wissen wir, das war die Grundlage der Politik der schwedischen Regierung. Viele Maßnahmen, die von den Regierungen in Europa ergriffen wurden, haben keine wissenschaftliche Grundlage. Grenzen zu schließen ist zum Beispiel sinnlos und hilft nicht. Menschen kommen durch jede Grenze, mit Grenzschließungen können Sie den Ausbruch nur um zwei oder drei Tage verschieben. Auch die Schließung von Schulen hat sich nie als wirksam erwiesen. Außerdem wird den Leuten gesagt, sie sollen drinnen bleiben. Das ist dumm, weil das Infektionsrisiko sehr viel geringer ist, wenn Sie draußen sind. Es gibt nur sehr mangelhafte Beweise dafür, dass Gesichtsmasken helfen.

Die Zahl der Corona-Toten ist in Schweden pro 100.000 Menschen mehr als dreimal so hoch wie in Österreich. Und sie ist fast fünfmal so groß wie in Norwegen. Zeigt dies nicht, dass Schweden den falschen Weg eingeschlagen hat?

Nein, denn in Österreich werden jetzt wieder mehr Menschen sterben, wenn der Lockdown zu Ende geht. Mit dem Lockdown haben Sie die Toten nur in die Zukunft verschoben. Wir sollten in einem Jahr über die Zahl der Toten sprechen und Österreich und Schweden vergleichen. Dann wird die Zahl in etwa gleich hoch sein. Mit dem Unterschied, dass Schwedens Wirtschaft verhältnismäßig besser dastehen wird.

Heißt das für Sie, dass der Lockdown der Wirtschaft in Österreich sinnlos war?

Ja, und er wird der Wirtschaft sehr lange wehtun. Die Menschen verstehen nicht, dass sich diese Krankheit hauptsächlich symptomlos von Mensch zu Mensch ausbreitet. Zwischen 75 und 90 Prozent der Ausbreitung sehen wir nicht, weil die Betroffenen keine Symptome haben. Was wir sehen, ist die Spitze der Pyramide. Wir sehen einige Fälle, die krank sind, und noch weniger Fälle, die schwer krank sind. Aber die wahre Epidemie bleibt uns verborgen.

Wie hoch ist die Sterberate an COVID-19 Ihrer Einschätzung nach?

Ich erwarte etwa 0,1 oder 0,2 Prozent, dieselbe Sterblichkeit wie bei Influenza. Ich denke, dieses Virus ist mit der Influenza vergleichbar, es könnte aber etwas gefährlicher sein. Wenn Influenza eine neue Krankheit wäre, sie noch niemand gehabt hätte und sie plötzlich in die Welt gekommen wäre, würde die Reaktion der meisten Länder genauso aussehen wie jene zum Coronavirus. Die Menschen realisieren nicht, wie viele jedes Jahr an der Influenza sterben. In Österreich sind es etwa 1.500 pro Jahr, und viele werden gar nicht gezählt. An die Influenza-Saison hat man sich gewöhnt. Das akzeptieren wir, und das finde ich interessant, denn das Problem der Influenza ist dem Coronavirus sehr ähnlich.

Wenn das Virus Ihrer Einschätzung nach harmlos ist, wie erklären Sie sich dann die hohe Anzahl an Toten in Italien und den USA?

Italien und die USA waren sehr schlecht auf das Virus vorbereitet und sie haben ihre Risikogruppen nicht geschützt.

In der Debatte wurde zuletzt viel über den „Hammer und den Tanz“ gesprochen – die Gesellschaft wird in einen Lockdown versetzt, dann geöffnet, und wenn es mehr Infektionen gibt, wieder heruntergefahren. Geht Schweden hier einen Zwischenweg?

Eine Hauptstütze der schwedischen Politik war immer, dass die Leute nicht dumm sind. Wenn Sie den Leuten sagen, was für sie gut ist und wie sie sich selbst schützen können, wie sie andere schützen können, dann tun sie das normalerweise auch. Wir haben keine Polizei auf der Straße, die Ihnen sagt, dass Sie nach Hause gehen müssen. Wenn Sie draußen jemanden treffen, müssen Sie sich hier nicht vor hohen Geldstrafen fürchten, das ist doch lächerlich. Aber wenn Sie an einem Samstagabend um 21 Uhr nach Stockholm kommen, sind die Straßen fast leer. Nicht weil es eine Ausgangssperre gibt, sondern weil die Leute drinnen bleiben. Sie bleiben bei ihrer Familie, sie isolieren sich selbst bis zu einem gewissen Grad. Viele Restaurants im Zentrum von Stockholm sind geöffnet, einige sind geschlossen. Aber nicht wegen eines Gesetzes, sondern weil sie keine Kunden haben. In Wirklichkeit ist der Unterschied zwischen den Ländern also nicht so groß.

Sie sagen, das Virus wird von den Regierungen in Europa gefährlicher eingeschätzt, als es ist. Warum tun dann die Regierungschefs, was sie tun?

Es geht um Politik. Politiker wollen Handlungsfähigkeit, Entscheidungskraft und vor allem Stärke demonstrieren. Mein bestes Beispiel dafür ist, dass in asiatischen Ländern Gehsteige mit Chlorin besprüht werden. Das ist völlig nutzlos, aber es zeigt, dass die Behörden und der Staat etwas tun, und das ist für Politiker sehr wichtig.

Was ist das Gesamtziel der schwedischen Strategie? Viele Experten sagen: Eine Herdenimmunität zu erreichen kostet zu viele Tote, deshalb müsse man die Ausbreitung des Virus so gut wie möglich eindämmen, bis es eine Impfung gibt.

Herdenimmunität zu erreichen, wird in Schweden eine indirekte Konsequenz unserer ersten Priorität sein, die lautet: die Risikogruppen zu schützen. Wir wissen nicht, wann eine Impfung kommt und wie verlässlich sie sein wird. Wir wissen auch noch nicht, ob und wie lange Immunität gegen das Virus nach einer Infektion besteht. Normalerweise ist die natürlich gewonnene Immunität besser als eine Impfung. Aber wenn sich herausstellt, dass es keine natürliche Immunität gegen das Virus gibt, wer sagt, dass diese eine Impfung gewähren kann?

Wollen Sie damit sagen, dass der Kampf gegen die Ausbreitung des Virus hoffnungslos verloren ist?

Ja. Dieses Virus wird sich ausbreiten. Es spielt kaum eine Rolle, was die Länder tun. Ich meine, Sie können Österreich zwei Jahre lang zusperren, wenn Sie wollen, aber ich glaube nicht, dass Sie das in einem demokratischen Staat tun können. In China könnten Sie das tun, aber in einer westlichen Demokratie würden die Menschen ausflippen.

Hat die schwedische Regierung in der Pandemie auch Fehler gemacht?

Ja, wir haben unsere Maßnahmen zum Schutz der Alten und Gebrechlichen bis zu einem gewissen Grad verfehlt. Wir haben Ausbrüche in Pflegeheimen und in den Häusern von Menschen, die zu Beginn des Ausbruchs besser hätten isoliert werden sollen.

Wie wird sich diese Pandemie Ihrer Einschätzung nach weiterentwickeln?

Die meisten Menschen realisieren nicht, wie ansteckend diese Krankheit ist und wie schwer es ist, sich davor zu schützen. Ich denke, das Ganze wird heute in einem Jahr zum Großteil vorbei sein.

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