Dec 22•7 min read
Es ist der späte Nachmittag des 22. Dezember 30.000 vor Christi Geburt im Neandertal, als Nog Mahmut in der Höhle seiner Sippe zwei Steine aneinanderschlägt und bemerkt, dass sie dadurch Funken schlagen. Schnell schaffen seine Clanmitglieder Reisig und trockenes Holz herbei, das Nog, eifrig mit den Steinen schlagend, dann entzündet. Soeben haben die Menschen das erste Feuer entdeckt. Falls man Neandertaler als Menschen bezeichnen will.
Am nächsten Tag, es ist der Abend des 23. Dezember 30.000 vor Christi Geburt, als sich Gog, Nogs älterer Schwager nähert und erklärt: „Na klasse, schön, dass Du es durch das Feuer hier so warm hast – Aber hast Du auch an die Umwelt gedacht? Durch den Rauch des Feuers fallen hinten in der Höhle die Fledermäuse in ihr Guano.“ Nog ist verblüfft und antwortet zuerst mit einem Grunzlaut und erklärt, dass das ja sein mag, aber sie jetzt nicht mehr frieren müssten und ihm ein paar Fledermäuse herzlich egal wären, wenn er sich nur nicht mehr in fünf Pelze hüllen müsste, und außerdem äße er gerne sein Fleisch gekocht, ob sich Gog noch an den letzten Sommer erinnern könne, als der Baum nach dem Blitzeinschlag gebrannt habe und sie die verbrannten Rebhühner gegessen hätten, und das wäre doch toll gewesen!
Aber Gog bleibt hart: „Überlege selbst, Nog. Wir haben jetzt das Feuer bei uns in der Höhle. Jetzt stell Dir mal vor, ein anderer Stamm oder andere Sippen kommen auf die gleiche Idee. Hast Du ansatzweise eine Ahnung, was so viele Feuer im Himmel anrichten? Der Himmel erwärmt sich und all das Eis um uns schmilzt und ertränkt uns! Überlege doch mal selbst, wohin das führt: Wir benutzen das Feuer zuerst zum Wärmen, dann zum Kochen, dann schmelzen wir irgendwann Eisen, Kupfer, Bronze und andere Rohstoffe und dann?“ „Ja, was dann?“, fragt Nog interessiert nach. „Na, dann geht alles den Bach ‚runter und wir werden alle sterben und dereinst werden unsere Nachfahren, falls es sie geben sollte, unsere Fossilien ausgraben!“, erklärt Gog aufgeregt und armwedelnd.
„Sieh Dir nur die Fledermäuse an, da geht es doch schon los. Kannst Du Dir eine Welt ohne Fledermäuse vorstellen?“, erklärt Gog Nog weiter, „wie das wäre, wenn die nicht mehr die Insekten in der Höhle fressen?“ Nog denkt einen Augenblick nach: „Auf jeden Fall wäre es in der Höhle sauberer, weil nicht mehr überall Fledermausguano herumliegt, und durch den Rauch gehen ja auch die Insekten weg, und die Fledermäuse können sich ja eine andere Höhle suchen, eine Fledermaushöhle sozusagen.“ Gog greift sich an den Kopf und schüttelt ihn derart heftig, dass ihm kleine Dreckbrocken aus dem Haar fallen: „Die Fledermäuse haben das gleiche Recht wie wir, in dieser Höhle zu leben. Jedes Leben ist wertvoll! Ob Fledermaus oder wir, wir alle leben in dieser Höhle!“
„Hmm“, brummt Nog, „der Bär den wir letztes Jahr getötet haben, als wir die Höhle beziehen wollten, hat das anders gesehen...“ „Mag sein“, sagt Gog und verschränkt die Arme vor der Brust, „deswegen habe ich da ja auch nicht mitgemacht...“ „Aber von dem Fleisch wolltest Du!“, wirft Nog ein, Gog lässt sich jedoch nicht irritieren, „Aber der Bär war ja auch ein Tier, und wir wollen ja nicht wie Tiere sein, oder?“ Nog stößt ein grunzendes Lachen aus: „Nein, wir sind nicht wie die Tiere! Wir haben Feuer!“
In diesem Moment kommt der junge Bog in die Höhle. Er rollt eine ungeschlachte hölzerne Scheibe vor sich her. „Schaut mal“, ruft er freudig, „das habe ich gefunden! Schaut, wie es sich bewegt! Ich nenne das „Rollen“. Es geht viel schneller als Laufen!“ Die Sippe, die um Nogs Feuer hockt, quittiert die Entdeckung mit einem erstaunten „Aaaaah!“ Außer Gog. Der schlägt sich mit der flachen Hand auf die flache Stirn. „Na toll! Der nächste Spinner. Eine rollende Holzscheibe. Von hier bis dahin, dass wir jetzt zwei Scheiben mit einer Achse verbinden und den ersten Kramp-Karren bauen, ist es jetzt auch nur ein noch ein kleiner Schritt. Weiß jemand von Euch Neandertalern, was das bedeutet?“, fragt er bedrohlich und bedeutungsschwanger in die verlauste Runde.
„Hab ich mir gedacht. Also: Wenn wir das jetzt durchlaufen lassen, dann werden wir über kurz oder lang tausende von Bäumen für die Scheiben fällen und alle, die bisher unsere Lasten getragen haben, von der Ziege bis zum versklavten Träger, werden über Nacht arbeitslos. Natürlich nutzen wir dann die Karren, um schneller und leichter Güter von Höhle zu Höhle zu bringen, wir werden Wege schaffen und dafür Wälder roden müssen, ganze Lebensräume werden wir vernichten, nur, um nicht zehnmal zu einem erlegten Mammut laufen zu müssen, sondern nur einmal. Das wird uns fett und bräsig machen und wir werden bald auch nicht mehr jagen, weil wir zu dick und zu faul und zu langsam geworden sind, um einem Mammut oder einer Gazelle hinterherzurennen. Wir werden alle aussterben. Erst verhungern, dann aussterben.“ Gog nickt, entschlossen und zufrieden mit seinen Ausführungen, mit dem Kopf.
Nog schüttelt zweifelnd seinen platten Schädel: „Letzte Woche hat mir einer von der Flachschädelsippe was gezeigt. Die werfen keine angespitzten Hölzer mehr, sondern benutzen ein kleineres Holz zusammen mit einem mit Darm gebogenen Stock, da muss niemand mehr schneller laufen als eine Gazelle, und man muss auch nicht mehr so nah an die Beute heranschleichen!“ Er überlegt einen Moment. „Wenn man an das kleinere Holz eine härtere Spitze aus Stein machen könnte...“, sinniert er laut.
Gog, der sich hingesetzt hat, springt wie von der Tarantel gestochen auf: „Seid Ihr alle noch zu retten? Feuer, Rollscheiben und angespitzte kleine Stöcke? Was kommt als nächstes für eine blöde Idee? Vielleicht sollten wir ja das gelbe Gestein hinten in der Höhle gegen irgendetwas Essbares tauschen, wenn wir einen Blöden finden, der das macht? Diese Stöckchen-Stock-Erfindung sondert nicht mehr die alten und kranken Tiere aus, sondern damit kann man die gesunden und jungen Tiere erlegen! Super Idee, Ihr Irren. Wir werden ganze Herden vernichten, Herden, mit denen wir hier unser Neandertal teilen.
Und damit nicht genug! Das lässt sich ja sogar gegen Säbelzahntiger und Wölfe einsetzen. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie viele tausende von Gazellen es plötzlich gibt, wenn wir die Säbelzahntiger und Wölfe töten? Wie viel die uns dann wegfressen? Dann brauchen die Frauen nicht mehr vor den Höhleneingang gehen und Beeren suchen, es wird keine mehr geben! Wir bringen uns mit dem Zeug um!“ Gog lässt sich wieder auf den Boden fallen und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. „Wie könnt Ihr es wagen?“, schluchzt er.
Nog streichelt ihm beruhigend über die Schulter. „Hast ja recht, Gog. Du bist mit Deinen 30 Sommern der Älteste und Weiseste von uns. Was sollen wir Deiner Meinung nach tun?“, fragt er sanft. Gog erhebt sich. „Ich zeige Euch, was wir tun, um unser Überleben hier im Neandertal zu sichern.“, sagt er und nimmt Bog die hölzerne Scheibe weg und wirft sie ins Feuer, in dem sie sich prasselnd entzündet: „Bis hierher und nicht weiter, sage ich. Wir haben die Welt nur von unseren Kindern geliehen. Wir sichern unser Überleben nur im völligen Einklang mit der Natur! Kein künstliches Feuer, keine konstruierten Scheiben, keine komischen Konstrukte. Früher gab es nicht einmal Wurfhölzer. Da haben wir noch Mann gegen Mammut gekämpft und das hat auch funktioniert! Also: Mut, Zuversicht und ein paar warme Felle werden uns auch in Zukunft genügen!“ So spricht der weise Gog und setzt sich unter zustimmendem Gemurmel der Sippe wieder hin.
Und wenn sie nicht ausgestorben sind, so leben sie noch heute. Mit Säbelzahntigern und Mammuts. Und Einhörnern.
Quelle: Thilo Schneider / 08.12.2019