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Von Adorján Kovács.
Beim wissenschaftlichen und politischen (gibt es noch einen Unterschied?) Umgang mit der von der WHO zur Pandemie ausgerufenen Infektionskrankheit Covid-19 stört vor allem, dass absolut nur noch auf diese Erkrankung fokussiert wird, ohne sie in Zusammenhänge einzuordnen, was eine Relativierung der Erkrankung im positiven Sinne ermöglichen könnte, ohne unzulässig zu verharmlosen. So ist der häufig gezogene Vergleich zwischen Grippe und Covid schwierig, wäre aber erhellend, wenn er denn nur korrekter vorgenommen würde. Hier soll auf einige verbesserungswürdige Punkte hingewiesen werden.
Zunächst fällt auf, dass bei anderen akuten Atemwegserkrankungen bewährte Verfahren verlassen wurden. So gibt es regelmäßig (fast in jeder Herbst-Winter-Saison) Grippeepidemien, ohne dass die an dieser gefährlichen Krankheit Verstorbenen fortlaufend gezählt würden. Das heißt, dass mit dem Ende einer Saison Ende April mit dem Zählen aufgehört wird und bei der neuen Saison im Oktober neu angefangen wird.
Nicht so bei der wegen ihrer Entdeckung Ende 2019 Covid-19 getauften Erkrankung, bei der es sich im Herbst 2020 eigentlich bereits um Covid-20 handelt: Das RKI zählt unverdrossen, von März 2020 beginnend, weiter und landet deshalb bei der Zahl von aktuell knapp 19.000 „an und mit“ einer Corona-Virusinfektion Verstorbenen. Das wird mit der Rede von der „zweiten Welle“ begründet, was nicht ganz einleuchtet, auch wenn SARS-CoV-2 sich nach derzeitigem Wissensstand nicht so schnell und stark verändert wie Influenzaviren – aber eben doch.
Was sich im Herbst dieses Jahres abspielt, ist deshalb eher eine neue Welle, und das RKI hätte mit dem Zählen wieder bei Null anfangen müssen. Das Zählverfahren des RKI schürt einerseits den Verdacht, dass hier mit möglichst hohen Todeszahlen operiert werden soll, andererseits wird in internationalen Studien durchaus mit jährlichen Todeszahlen gearbeitet, wie wir gleich sehen werden. Warten wir also ab, ob das RKI wenigstens im Januar dann mit einer neuen Zählung beginnt, was auf jeden Fall sinnvoll und üblich wäre. Wenn das nicht erfolgt, stützt das den gerade erhobenen Verdacht.
Dann fehlt bei der Zählung der Covid-Verstorbenen ohnehin eine Einordnung durch einen Vergleich mit der Influenza. Dieser ist zwar nicht leicht, weil erstens derzeit nach allen Berichten SARS-CoV-2 eher zu häufig als zu selten für den Tod an akuten Atemwegserkrankungen verantwortlich gemacht wird, was sich schon an der Formulierung „an und mit verstorben“ zeigt, und man zweitens bei der Influenza eher zu niedrig lag als zu hoch, weil längst nicht so extensiv (!) und sorgfältig (?) dokumentiert wurde wie heute bei Covid.
Momentan (Dezember 2020) wird laut RKI von 1,5 Millionen Covid-Toten weltweit gesprochen. Auch das ist eine Zahl, bei der durchgezählt wurde, was aber im Vergleich zu den folgenden Zahlen brauchbar ist, die auch auf das Jahr bezogen sind. Bei der Influenza beziehe ich mich auf zwei aktuelle Studien (AD Iuliano et al., Estimates of global seasonal influenza-associated respiratory mortality: a modelling study, Lancet 2018 doi: 10.1016/S0140-6736(17)33293-2 und J Paget et al., Global mortality associated with seasonal influenza epidemics: New burden estimates and predictors from the GLaMOR Project, J Glob Health 2019 doi: 10.7189/jogh.09.020421).
Es handelt sich um Modellrechnungen mit allen ihren Unsicherheiten. Interessant ist aber, dass unterschieden wird zwischen „influenza-associated deaths from respiratory causes alone” und „deaths from lower respiratory tract infections directly caused by influenza”; mit anderen Worten muss hier auch differenziert werden zwischen direkter und mittelbarer Todesursache sowie zwischen Grippetoten, die an Atemwegs- und Grippetoten, die an anderen Komplikationen verstorben sind. Man muss demnach weltweit mit zwischen 300.000 und 600.000 Influenza-Toten jährlich rechnen, von denen übrigens etwa ein Drittel jünger als 65 Jahre alt war. Das zeigt, dass selbstverständlich auch die Grippe nicht vor Jüngeren halt gemacht und bei ihnen nicht selten tödlich geendet hat. Man darf aber schon fragen, warum im Jahr 2020 diese Grippetoten ausgeblieben sind. Sind sie in der Zahl der so genannten Covid-Toten aufgegangen oder ist die Grippe ausgestorben?
Aber noch mehr lässt folgende Studie, veröffentlicht in Lancet, aufhorchen (GBD 2015 Mortality and Causes of Death Collaborators). Das Institute of Health Metrics and Evaluation (IHME) schätzte, dass 2015 ungefähr 2.500.300 bis 2.860.800 „global lower respiratory infection deaths” vorkamen, von denen 3 Prozent der Grippe zugeordnet werden konnten (Iuliano kam auf 13 Prozent, was einmal mehr die Unsicherheit der Zählung zeigt). Dieses Jahr (Stand September 2020) werden vom selben Institut 1.805.000 an „lower respiratory infections“ Verstorbene angegeben, zu denen noch 950.000 Covid-Tote hinzukommen (Just How Do Deaths Due to COVID-19 Stack Up? | Think Global Health).
Das wären circa 30 Prozent aller an Atemwegserkrankungen Verstorbenen und der Anteil damit deutlich höher als bei der Grippe. Aber zusammengenommen sind 2020 etwa 2.855.000 Menschen global an Atemwegsinfekten verstorben und damit, aufs Jahresende hochgerechnet, nicht viel mehr als etwa 2015. Warum also jetzt diese Maßnahmen? Alle Schlussfolgerungen hängen aber von der Vergleichbarkeit dieser Zahlen ab. Diese Vergleichbarkeit ist aufgrund unterschiedlicher Berechnungsmethoden nicht gegeben (JS Faust und C el Rio, Assessment of Deaths From COVID-19 and From Seasonal Influenza, JAMA Intern Med. 2020 doi:10.1001/jamainternmed.2020.2306).
Eine weitere Frage betrifft die Hospitalisierung der Erkrankten. Diese Frage ist darum wichtig, weil die Überlastung des Gesundheitswesens der ursprüngliche Grund für den Lockdown war. Es fragt sich: Wo sind die 25.100 geschätzten deutschen Grippetoten der Saison 2017/18 verstorben? Ambulant, zum Beispiel im Heim, oder im Krankenhaus? Schwer erkrankt gewesen dürften noch erheblich viel mehr Menschen gewesen sein, denn es werden ja auch damals viele schwer Erkrankte genesen sein. Warum waren dann die Intensivstationen 2017/18 nicht überfüllt?
Von einem Engpass ist jedenfalls nichts bekannt, und die einzige Erklärung ist, dass nicht alle schwer Erkrankten hospitalisiert wurden, sondern eine gewisse Zahl auch ambulant verstorben sind. Heute hingegen werden sicher alle Patienten, die eine schwere Atemwegserkrankung haben, wegen der medial extrem stark betonten Infektiosität von SARS-CoV-2 ins Krankenhaus eingewiesen, wohl eher früher als später. Zudem ist bekannt, dass die Krankenhäuser mehr Geld pro „Corona-Fall“ bekommen; auch das wird die Dokumentation von Covid-Fällen fördern und die Zahl eher nach oben als nach unten treiben.
Leider ist nun aber nicht bekannt, ob und wie viele schwer Grippekranke 2017/18 ambulant verstorben sind. Aber die Logik lässt hier kaum einen Ausweg: Die Hospitalisierungspolitik muss eine andere als heute gewesen sein, und heute dürfte der Engpass an den Beatmungsgeräten zwar nicht „künstlich“ sein, aber doch durch eine maximale Einweisungspolitik verursacht werden. Das ist zwar grundsätzlich begrüßenswert, weil um jedes Leben gekämpft wird, aber man darf auch hier fragen, ob das wirklich nur aus Menschenliebe geschieht oder nicht doch andere Interessen diesen Gesinnungswandel gegenüber der Grippe und gegenüber deren ärztlicher und politischer Behandlung bewirkt haben könnten.
Es gibt also noch viele Fragen, die genauer untersucht werden müssen und ohne deren Beantwortung keine korrekte Einordnung der Erkrankung Covid möglich sein wird, mit allen Folgen für das weitere Vorgehen, wie zum Beispiel die gewaltigen Impfprogramme mit ihren teilweise bedenklichen Konsequenzen.
Autor: Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. habil. Adorján Kovács, geboren 1958 in Stolzenau an der Weser, ist niedergelassener Mund-, Kiefer-, und Gesichtschirurg. Er hat 20 Jahre an einer Universitätsklinik gearbeitet, über 150 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht und sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Krebspatienten habilitiert. Er ist auch publizistisch tätig.