Mar 15•12 min read
Ein Kommentar zur Lage von Roger Letsch
Krisen wie die aktuelle unter der Ägide des Covid-19-Virus hat es noch nie gegeben, denn im Unterschied zur Pest im 14. Jahrhundert oder der Spanischen Grippe 1918 trifft es heute eine weiterentwickelte, stark vernetze und vor allem extrem arbeitsteilige Gesellschaft. Das 14. Jahrhundert basierte auf Selbstversorgung kleiner und kleinster Einheiten, der Fernhandel war überschaubar. Selbst 1918 lebte die Mehrheit der Menschheit noch in ländlichen Strukturen, der Kontakt zur Außenwelt wurde vom Pfarrer und vom Bürgermeister aufrechterhalten und beide wandten sich an höchst unterschiedliche „höhere Instanzen“. Die Wucht, mit welcher der jähe Stopp des wirtschaftlichen und sozialen Lebens die Welt heute trifft, hat kein Beispiel. Ökonomen wie Taleb oder Krall sehen in der aktuellen Corona-Pandemie genau das „Schwarzer Schwan“-Ereignis, an das niemand gedacht hat und das Potenzial in sich trägt, uns in eine tiefe und lange Stagflation zu stürzen. Die Panik an Märkten, in Regierungen und in der Bevölkerung gibt ihnen recht, auch wenn dieser Schwarze Schwan nicht der Auslöser der Krise, sondern nur deren Brandbeschleuniger ist.
Es wird einigen noch nicht aufgefallen sein, aber das erste, was in dieser Krise knapp wurde, war nicht Toilettenpapier, sondern Vertrauen. Das Vertrauen darauf, dass unsere Gesellschaft auch morgen noch so funktionieren wird, wie wir sie beim Schlafen gehen zurückgelassen haben, hat tiefe Risse bekommen. Die Gewissheit des Überflusses war es, die es einigen sogar erlaube, politische Geringschätzung oder Verachtung dafür zu entwickeln. Sätze wie „wir haben zwanzig Sorten Joghurt im Kühlregal, können aber den Hunger in der Welt nicht besiegen“ klingen uns allen noch in den Ohren. Doch gerade der Überfluss, die Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit unserer Lieferketten sorgten dafür, dass wir Vertrauen aufbauten und jede Vorsorge bereitwillig externalisiert oder unterlassen haben. Es bedurfte nur weniger Jahrzehnte, um das menschliche Verhalten vom tribalen Raffen hin zur anonymen Kooperation zu verändern. Es bedarf sogar nur Tage, um in tribales Verhalten zurückzufallen und eingespielte Versorgungsketten an den Rand des Kollaps zu bringen.
Unser kooperatives Verhalten hat sogar so gut funktioniert, dass wir uns keine Gedanken darüber machten, wie es zustande kommt. Wir dachten, die ganze Welt ticke so wie wir. Denn dass Stromversorgung, Wasser, Gas, Müllabfuhr, Gesundheitsversorgung und die Versorgung mit Joghurt gesichert waren, dafür sorgte doch die Regierung! Es ist noch nicht lange her und klingt wie ein verquerer Hilfeschrei aus einer anderen Zeit, dass die sogenannten Prepper auf dem Radar des Verfassungsschutzes auftauchten. Die Süddeutsche noch 2017: „Sogenannte „Prepper” bereiten sich auf mögliche Katastrophen vor, in denen das staatliche Versorgungssystem zusammenbricht.“ Hier ist bereits verräterisch von „staatlich“ die Rede, wo doch eigentlich von der Lebensmittelversorgung durch den freien Markt gesprochen werden muss. Heute ist allen das Lachen und Kriminalisieren vergangen, stattdessen könnten Prepper nun Seminare über Lagerwirtschaft, Verbrauchskalkulation und Vorratshaltung geben, wenn es noch öffentliche Veranstaltungen gäbe.
Krisenzeiten sind gute Zeiten für fähige Politiker und man muss leider feststellen, dass es solche zumindest auf Landes‑, Bundes‑, oder EU-Ebene nicht gibt. Ist nicht die EU per eigener Definition genau eine solche Körperschaft, die jenseits nationaler Interessen das Wohl aller Bürger im Auge hat und sich um nichts Wichtigeres kümmert, als das große Ganze? Doch es gab und gibt keine Notfallpläne, kein einheitliches Vorgehen gegen Covid-19, und das, obwohl doch an der Spitze der mächtigsten Institution „EU-Kommission“ mit Ursula von der Leyen ausgerechnet eine Medizinerin steht.
Stattdessen erleben wir wie in jeder Krise die Renaissance der Nationalstaaten, die Grenzen schließen, Notfallmaßnahmen ergreifen und Kräfte dirigieren können. Außer in Deutschland, wo Kanzlerin Merkel um ihren Platz in der Geschichte bangt, statt ausgerechnet das zu tun, was die Schwefelpartei seit Jahren (wenn auch aus ganz anderen Gründen) fordert: die Grenzen zu schließen. Ihre Ausrede für das Versagen von 2015 war, die Grenze sei ja schon offen gewesen, hätten also gar nicht mehr geöffnet werden können. Diesmal wird ihre Ausrede sein, dass unsere Nachbarn durch deren Grenzschließungen uns die Arbeit ja bereits abgenommen hätten. Welche Schwäche!
Es ist die Schwäche des Nichtstuns und Nichtregierens, dass sich lieber mit der Bewältigung der Folgen eigener Unterlassung befasst, statt in der Krise aktiv zu werden. Dies offenbart sich in der Art, wie heute politische Verantwortung übernommen wird. Und zwar in der Krise, nicht bei Schönwetter! Als Helmut Schmidt als Bürgermeister von Hamburg bei der Elbeflut 1962 die amerikanische Armee zu Hilfe rief, verstieß er streng genommen gegen Recht und Gesetz. Der Preis des möglichen Scheiterns war klar: er hätte seinen Hut nehmen müssen, wenn seiner Entscheidung kein Erfolg beschieden gewesen wäre. Es gab vergleichbare Fälle bei Adenauer, Brandt, Kohl und Schröder. Jedoch keine eindeutigen unter Merkel. Selbst für das Sicherheitsversprechen für deutsche Spareinlagen von 2008 brauchte sie Finanzminister Steinbrück als Garant an ihrer Seite.
Ängstliches Zögern lähmt unfähige Politiker ausgerechnet dort, wo Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen anzuordnen sind, die nur zentral entschieden und angeordnet werden können. Dies und nur dies ist die Domäne eines Staates oder der EU, die sich stattdessen lieber damit befassen, möglichst tief in das Leben des Einzelnen regelnd einzugreifen, selbst wenn dieser nicht darum gebeten hat. Doch mutiges Handeln in Krisenzeiten schließ ein, dass man für seine Entscheidungen – die richtigen und die falschen – gegenüber seinem Souverän Verantwortung übernehmen muss. Verantwortung zu übernehmen bedeutet heute jedoch nur, nach einer Erklärung zusammen mit der übernommenen Verantwortung den Raum einer Pressekonferenz zu verlassen und im Amt zu bleiben.
Wie wenig Tuchfühlung unsere Politiker zumindest auf Bundesebene mit den Sorgen und Nöten der Menschen haben, zeigte sich erst in dieser Woche, als rings um Deutschland die Länder Notmaßnahme um Notmaßnahme verkündeten und es in Berlin nichts Eiligeres zu beschließen gab, als die Erhöhung der Rundfunkgebühren ab 2021. Die Beurteilung dieser Taktlosigkeit liegt bei den Bürgern irgendwo zwischen blankem Zynismus und kalter Verachtung und die Bürger werden das auch nicht so schnell vergessen.
Wir hatten uns nicht nur auf staatliche Lenkung und Garantien verlassen, sondern auch dabei zugesehen, wie unsere Legislative jahrelang die Axt der „politischen Gestaltung“ an die Systeme legte, die uns so selbstverständlich geworden waren, wie der Wechsel von Tag und Nacht. Strategische Reserven wurden abgebaut und verschwanden, Notfallpläne wurden nicht aktualisiert, Veränderungen in Struktur und Gewohnheiten der Menschen nicht in Rechnung gestellt. Einige werden sich vielleicht noch an die etikettenlosen Fleischkonserven erinnern, die früher in Schüben in den Märkten auftauchten, wenn in staatlichen Lagern die Notrationen umgeschichtet wurden. Lange vorbei. Die Berliner Senatsreserve, im Erinnerung an die Berlinblockade angelegt, wurde ab 1989 für obsolet erklärt und abgeschafft. Als letzte Reminiszenz an kalten Krieg, Krisenvorsorge und schlechtere Zeiten bleibt vielen heute nur noch das samstägliche 12-Uhr-Proben der örtlichen Sirenen. Statt nun aber zu begreifen, dass sich diese Krise nicht mit den üblichen Barrikaden-Floskeln vom „Zusammen stehen”, „Haltung zeigen”, „offener Gesellschaft” und „Hand in Hand” wird vertreiben lassen, sind wir gestraft mit Journalisten, die den Schuss selbst dann nicht hören, wenn sie neben der Kanone stehen.
Zurückgeworfen auf die Frage, auf was im Leben eigentlich noch Verlass ist – und angesichts der Führungsschwäche unserer Politik steht alles in Frage – verfallen die Menschen in die unsinnigsten Verhaltensweisen. Denn ausgerechnet Toilettenpapier zu bunkern, als würden die Bäume morgen aufhören, Zellulose zu produzieren, zeugt nicht gerade von Rationalität und planvollem Verhalten. Doch wir haben es einfach verlernt, uns auf Krisen vorzubereiten und die noch vorhandenen rudimentären Instinkte lassen uns in Richtungen laufen, die kein Psychologe mehr erklären kann.
Meine Großmutter, Jahrgang 1901 und Zeitzeugin zweier Weltkriege, der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der entbehrungsreichen Nachkriegszeit ab 1945 – noch dazu im östlichen Deutschland – würde angesichts der aktuellen Hamsterei nur müde lächeln. Sie sammelte jedoch bis zu ihrem Tod 1977 Kohlen, Kartoffeln und Rüben von der Straße auf, wenn vorbeifahrende Fahrzeuge diese verloren hatten und ihre Abneigung gegen die Verschwendung von Lebensmitteln war episch! Denn Kohlen und Rüben bringen dich durch den Winter, Toilettenpapier eher nicht. Sie hätte sicher nicht verstanden, warum man die Energieversorgung von heimischer Kohle auf russisches Gas oder volatilen Wind umstellt, um so den zahlreichen Abhängigkeiten noch eine weitere hinzuzufügen und immer dichter am Rand eines Blackouts spazieren zu gehen.
Nun möchte ich hier nicht dem einfachen und entbehrungsreichen Leben das Wort reden, das für meine Oma noch Alltag war. Man kann das Streben nach Vorräten an Toilettenpapier auch anders interpretieren. Kern unserer Zivilisation sind womöglich eher die sanitären und hygienischen Errungenschaften als die geisteswissenschaftliche Betrachtung der Weltläufte. Wäre es anders, deckten sich die Menschen wohl statt mit Toilettenpapier lieber mit den Werken Prechts oder der Genderwissenschaft ein, um gut durch die Krise zu kommen – wobei nicht ausgeschlossen ist, dass man diese dem Zweck der Körperhygiene des Südpols zuführt, wenn die Not groß ist. Vermutlich ist die Arbeit eines Klempners, eines Fliesenlegers oder eines Müllentsorgers eben doch wesentlicher, wichtiger und wertvoller als die eines Professors für vergleichende Genderologie. Doch während die Netzwerke letzterer in schönster Blüte stehen, haben wir die ersteren seit Jahren sträflich vernachlässigt.
Die politische Axt des Gestaltens fährt aber auf viele Bereiche nieder und ganze Heerscharen von Aktivisten schauen dem stümperhaften Schnitzwerk zur Rettung der Welt applaudierend und anfeuernd zu. Stein für Stein wird aus dem Pflaster der Straße gebrochen, dass wir aus den Errungenschaften der Zivilisation wie selbstverständlich unter den Füßen haben. Es braucht ja nicht erst Covid-19 um zu erkennen, dass Systeme wie die Energieversorgung, das Gesundheitssystem oder die Bundeswehr längst so auf Kante genäht sind, dass man schon kaum noch Resilienz in ihnen findet. Diese mangelnde Resilienz fehlt uns heute schmerzlich.
Auch dass den LkW, der den Nachschub an Seife, Nudeln und Toilettenpapier in die Supermärkte bringen möge, der überall verteufelten Dieselmotor antreibt, wird manchen Aktivisten wohl erst heute klar, nachdem sie im Kampf gegen kurzlebige Stickoxide und ein paar Mikrogramm Feinstaub grobfahrlässig erste Fahrverbote forderten. Die vor dem Feinstaub gerettete Menschheit stirbt am noch feineren „Staub“ viraler DNA – die Evolution hat wirklich Humor und kennt keine Gnade mit dem aufgeblasenen Ego notorischer Weltretter. Der Rettungswagen, der einen kollabierten Umweltaktivisten mit Dieselkraft in die Notaufnahme bringt, wo mit Braunkohle produzierter Strom die Infusions-Apparate und Beatmungsmaschinen betreibt, ist eine treffende Satire auf wohlstandsverblödete Problemsucher, die nie erkannt oder wieder vergessen haben, dass die Natur nicht unbedingt unser kuscheliger Freund ist, dem wir Gewalt angetan und nun retten können. Manchmal ist die Natur nur das Arschloch, das einfach das Licht ausmacht, während wir ohne Toilettenpapier auf dem Klo sitzen.
Wir haben es weit getrieben in letzter Zeit. In Paris wurde 2015 unter lautem Applaus beschlossen, die globale Erwärmung zu stoppen, ja, den Trend umzudrehen. Heute sitzen wir in einem mehrfach ausgebremsten, verwundeten Land quasi unter Hausarrest, während die Natur draußen den Frühling vorzieht, die Krokusse blühen lässt und der frühlingshafte Märzwind flüstert uns zu:
‚Ihr kleinen Menschen, das war also eure größte Furcht? Dass die Winter milder und die Sommer wärmer würden? Ihr sorgtet euch um Südseeinseln, die dennoch einfach nicht im Meer versinken wollen. Ihr hattet Angst um den Eisbären, den ihr in Köln, München oder Hamburg zu vermissen glaubtet, dabei geht es dem ganz prächtig. Eure Forschungsschiffe, die ihr aussendet, um das Abschmelzen der Pole zu dokumentieren, bleiben im Eis stecken. Eure Kinder gingen freitags nicht zur Schule, weil sie Angst vor der Zukunft hatten. Nun schließt ein Virus all eure Schulen und ihr habt wirklich Grund, euch zu fürchten. Ich will euch lehren, dass ihr Teil dieses Planeten seid, nicht dessen Normgeber oder Aufpasser. Eure Verletzlichkeit liegt in eurer Arroganz, ohne Zögern in jedes Nichts zu springen, wenn es nur eine große Bewegung verspricht und ausgerechnet das gering zu schätzen, was ihr euch über Jahrhunderte mühsam erkämpft und erarbeitet habt.‘
Ergänzend zu diesem Machtwort der Natur füge ich eine kleine Anekdote an, die uns jetzt, da wir als Gesellschaft gegen den Abstieg und die Auflösung kämpfen, wie eine Nachricht aus einer übergeschnappten Vergangenheit erscheinen mag.
In „besseren Zeiten“, als unsere Politiker jeden Tag eine weitere Sau durch Dorf jagten, um immer absurdere Wege zu finden, das Leben der Menschen zu reglementieren und den technischen Fortschritt zu geißeln, hatte unsere Umweltministerin Svenja Schulze die irre Idee, im Kampf um CO2-Einsparungen dem Internet ans Leder zu gehen. Man müsse ja nicht immer die höchste Auflösung für Bild und Video einstellen, so Schulze, ganz im modernen Verzichtsprech, wie er Greta Thunberg so gut gefällt.
Nun hat Covid-19 auch die Freitagsdemos der Greta-Jünger auseinandergesprengt und in die vernetzten Zimmer zurückgeworfen und Greta fordert via Twitter, die Streiks von zu Hause aus fortzusetzen. Und zwar, indem man Fotos von sich mit Streikschild postet, auf dem die immergleichen Forderungen zu sehen sind. Svenja Schulze und Greta Thunberg kämpfen hier an derselben Front und je erfolgreicher Schulzes Verzichtsforderungen würden, umso schlechter könnte man die Forderungen auf den Schildern der Klimakinder wegen Verpixelung lesen.
Eine Weltretterbewegung, die durch die Natur in ihre sicheren, künstlichen Alkoven zurückgedrängt wird und von dort dem Verlöschen ihrer Botschaften durch deren Verwirklichung zusehen muss. Das würde ich dialektischer Overkill nennen!
Spätestens jetzt sollte auch dem Letzten klar sein, dass hier einiges gewaltig schief gelaufen ist und das die Menschheit wirklich elementareren Bedrohungen ausgesetzt ist, die wir im Gegensatz zu den gefühlten und erdachten Bedrohungen nie auf dem Zettel hatten. Covid-19 wird nicht das Ende der Zivilisation bedeuten. Aber vielleicht das Ende jener Welt, die wir für beherrschbar und nach Belieben und Gutdünken veränderbar gehalten haben.
Empfehlenswert ist auch der Blog des Autors.