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Ich wurde auf die Halbinsel Kola eingeladen. Eine Dienstreise im Februar hinter den Polarkreis – das klingt interessant und nach Abenteuer. Auch bauchmiezelt eine solche Einladung natürlich den Eingeladenen. Die Russen wissen offenbar einen Atomfuzzi noch zu schätzen – unvergessen sind die Zeiten, als auch in Deutschland den Nukkis die Mädchenherzen zuflogen, bloß weil sie sich als Kernphysiker zu erkennen gaben. Heute reicht für das Glück beim anderen Geschlecht – bei welchem von den 64 auch immer – sich die Schmalzlocke blau zu färben und halbgare Gedanken in eine Kamera zu flöten.
Außerdem war ich noch nie im Kernkraftwerk Kola. Es wird die Nummer 111 auf der Liste meiner weltweit besuchten Kraftwerke sein. Keine Chance, die Sammlung je komplett zu machen, es gibt über 450 Reaktoren weltweit. Und 50 neue Reaktoren sind im Bau. Deutschland hat leider keine Chance mehr, die Welt vor dem unweigerlich eintretenden Atomtod zu retten, es können nur noch sechs Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Dann ist in Good Old Germany Finito: Ofen aus, wir sind raus, und die Weltbilanz bleibt mit 44 neuen Reaktoren trotzdem positiv für die Kernenergie.
Ich fahre nicht allein. Mein Team, das sind vier Experten aus acht Ländern: Der Katalane Conrad aus Spanien, der Russe Oleg aus der Ukraine, der Amerikaner Ken aus Tokyo und ich, der Deutsche aus Paris. Wir treffen uns im Novotel des Moskauer Flughafens Scheremetjewo „Aleksander Sergejewitsch Puschkin“ und fliegen gemeinsam nach Murmansk.
Die Kola-Halbinsel liegt im hohen Nordwesten Russlands, gleich östlich der skandinavischen Halbinsel. Die Kola-Halbinsel grenzt gleich an zwei Meere: das Weiße Meer und die Barentssee. Dort gibt es nicht viel mehr als Tundra. Die zwei größten Städte sind Murmansk im Norden und Lowosero ziemlich in der Mitte der Halbinsel Kola. Von Murmansk bis nach St.Petersburg am Ladogasee führt die berühmte Murman-Bahn mit 1.448 km Länge. Sie wurde im 1. Weltkrieg um 1915 gebaut. Heute wird sie gerne von Touristen genutzt. Im Zentrum der Halbinsel Kola, um die Städte Montschegorsk, Kirovsk, Apatity und Kandalakschá, findet man große Mengen an Nickel, Kupfer, Phosphat und Aluminium. Deswegen leben hier Menschen, und weil die da leben, braucht es das Kernkraftwerk Kola, das 60 Prozent des Strombedarfes der Region erzeugen kann.
Murmansk ist mit 300.000 Einwohnern die weltweit größte Stadt hinter dem Polarkreis. Murmansk war bis 1991 militärisches Sperrgebiet, denn hier lag wegen des nördlichsten, eisfreien Hafens – bedingt durch den warmen Golfstrom – die russische Nordmeer-Flotte vor Anker. Hier befindet sich der Hauptstützpunkt der Nordflotte Russlands. Im Hafen liegen bis zu 10 Atomeisbrecher. Der ausgediente Atomeisbrecher Lenin ist als Museum zu besichtigen. Man kann riesige, an den Zweiten Weltkrieg erinnernde Monumente bestaunen. Dazu gibt es eine ungebändigte Natur, Sami-Dörfer, Rentiere, Polarnacht und Polartag. Die Barentssee bei Murmansk friert dank des warmen Atlantischen Golfstroms nicht zu, was die Stadt zu einem bedeutenden Hafen für Last- und Fischfang-Schiffe machte. Hier beginnt der nördliche Seeweg, welcher den europäischen Teil des Landes mit den schwer zugänglichen Regionen in Sibirien und dem Fernen Osten verbindet.
1964 entschied die damalige Sowjetregierung, auf der Halbinsel Kola ein Kernkraftwerk zu bauen. 1974 ging der erste Reaktor in Betrieb. Der letzte von vier Reaktoren wurde 1984 ans Netz geschaltet. Seither laufen die Reaktoren vom Typ VVER 440 und sorgen zuverlässig für Strom im hohen Norden. Das Durchschnittsalter des Kraftwerks ist mit 41 Jahren dasselbe wie das Durchschnittsalter der Mannschaft. Es arbeitet schon die zweite Generation von Kernkraftwerkern hier, die Dritte tritt gerade an. Die vier Reaktoren haben eine Laufzeitverlängerung auf 60 Jahre Betriebszeit bekommen. Russland leistet es sich nicht, wertvolle Produktionsmittel aus ideologischen Gründen einfach wegzuwerfen. Um dem hohen Sicherheitsanspruch gerecht zu werden, wird das Kraftwerk akribisch instandgehalten und ständig sicherheitstechnisch nachgerüstet.
Im kleinen Flughafen Murmansk angekommen, lerne ich erste arktische Temperaturen kennen: es sind minus 20 Grad Celsius und Sonnenschein, kein Lüftchen regt sich. Es liegt ein Meter Schnee, der am Straßenrand auf eineinhalb Meter hochgeschoben ist. Die Straße ist schnurgerade und endlos, eine Tankstelle mit einem Blockhausbuffet kommt erst nach 100 Kilometern in Sicht. Große LKW donnern, weiße Dampffahnen ausstoßend, über die Straße. Wir fahren in einem VW-Kleinbus, dessen Standheizung voll mitläuft. Trotzdem frieren die Seitenfenster zu. Mir kommt unwillkürlich der Gedanke: „Was würde ein Elektroauto hier tun? Der Bedarf an Heizleistung würde die Batterie sofort leernuckeln. Es käme keine 50 Kilometer weit und der Fahrer würde erfrieren. Ich denke daran, was wir Deutschen doch für ein lokales Weltbild pflegen. Wir sind in anderen Gegenden der Welt kein Vorbild, man kennt uns gar nicht. Es fällt uns schwer, uns in die Denkweise von Menschen zu versetzen, die ganz andere Probleme haben als wir.
Für die 2.200 Mitarbeiter des Kraftwerkes ist es Ehre und Verpflichtung, in einem Kernkraftwerk zu arbeiten, sie sind stolz darauf. 60 Prozent der Mitarbeiter haben einen Fach- oder Hochschulabschluss. In Kola zu arbeiten, heißt aber auch, mit seiner Familie am Ende der Welt in dem 40 Jahre jungen Städtchen Polyarnie Zori zu wohnen – 250 Kilometer von Murmansk und 1.200 km von St. Petersburg entfernt.
Man lebt in einem eiskalten langen Winter, umgeben von endloser Tundra mit ein paar großen Seen, nur 150 km vom Weißen Meer und der finnischen Grenze entfernt. Mitte Mai bis Mitte Juli ist Polarsommer. Man kann hier jagen, angeln, waldwandern, bootfahren. Es gibt ein paar schöne und einsame Ski-Abfahrten und schier endlosen Langlaufmöglichkeiten. Man muss sich allerdings recht warm anziehen, minus 30°C sind nichts Seltenes. Zum Glück weht hier meist kein Wind, wenn es richtig kalt ist. Kein Land für Windmühlen. Das hat Folgen: Der Strompreis für Verbraucher in Russland beträgt 7 Cent pro Kilowattstunde, beim Weltmeister Deutschland sind es 31 Ct/kWh, mehr als viermal so viel.
Tags darauf versuche ich tapfer, den hotelnahen lokalen Supermarkt zu erreichen. Die Einheimischen fahren hier mit japanischen Allrad-SUVs umher. Ich stapfe durch den Schnee oder balanciere über spiegelglatte Eisflächen, die den Anderen offenbar keinerlei Rutschprobleme bereiten. Mir schon. Vor dem Eingang des Ladens werde ich unvorsichtig und reiße folgerichtig beide Hufe in kühnem Schwung nach oben, um sehr unsanft auf dem Rücken zu landen. Das Eis ist beinhart. Ehe ich mich berappeln kann, haben mich starke russische Arme auf die Füße gestellt und ich werde von den pelzbemützten Matkas gehörig saubergeklopft. Keine Häme, nur freundliche Hilfe und ein paar Scherze. Im Supermarkt ist von den alten Mangelzeiten nichts mehr zu spüren. Es gibt mehr Biersorten, als es zu Sowjetzeiten Produkte gab.
Seit jeher wird in der Kälte der winterlichen Tundra Pelz getragen. Pelz ist bei den Damen auch heute noch in. Es gibt hier nämlich keine Peta-Aktivisten, die Pelzträgerinnen anspucken. Und um sich aus Protest für Tierrechte nackig zu machen, ist es hier nicht warm genug. Die Schapkas und Mäntel passen sehr gut zu der weißen Wunderlandschaft der Tundra und zu den hübschen Gesichtern der Russinnen, die sich viel Mühe mit ihrem Look machen. Allerdings haben die Füchse und Zobel ihren Preis – zum Glück mag meine Holde so etwas in Paris nicht tragen, zu warm. Es gibt die weltberühmten Kamtschatka-Krabben, eingeweckt, das Glas zu 80 Euro. Von den Preisen für den Zuchtkaviar gar nicht zu reden.
Die Woche vergeht wie im Fluge. Von früh bis spät arbeiten, busfahren, ein üppig-russisches Dinner, wach liegen mit Jetlag. Wodka gibt es nur am letzten Abend und mit großer Moderation. Nachts will ich Nordlicht gucken und gehe vors Haus. Die eisige Kälte treibt mich aber sofort zurück ins Warme, noch ehe der Nordhimmel erleuchtet wird. Huuu, das waren fast 30 Minusgrade.
Der Flieger zurück nach Moskau ist voll besetzt, viele chinesische Familien an Bord. In China gibt es den festen Glauben, dass, wer das Polarlicht mit eigenen Augen gesehen hat, sich über einen schönen Nachwuchs freuen darf. Also kommen chinesische Touristen zum „Nordlicht gucken“. Die Leutchen tragen allesamt ihre Schutzmasken, die meisten allerdings aus Bequemlichkeitsgründen unter der Nase. Als der Flieger abhebt, erhasche ich noch einen Blick auf die endlosen Weiten der Tundra, die unter ihrer dicken Schneebettdecke einen tiefen Winterschlaf hält. Und ich sehe die vielen Hochspannungsleitungen vom Kernkraftwerk in alle Richtungen, die wie Blutadern Leben in diese unwirtliche Kältelandschaft bringen.
Was nehme ich mit von der Halbinsel Kola im hohen Norden? Eine tiefe Bedenklichkeit, gemischt mit etwas Fremdscham für die ewige deutsche Besserwisserei. Ich lerne hier, dass mein Vaterland viel kleiner und unwichtiger ist, als es von sich selbst denkt. Dass die Möchtegern-Vorreiter mit ihrer Anmaßung aus der Ferne keine Ahnung von der Welt haben und eher wie anmaßende Zwerge aussehen. Dass es eine Menge Gründe dafür gibt, dass meine finnischen und schwedischen Kollegen das Wort Besserwisser mit dem deutschen Lehnwort „Besserrwisserr“ in ihre Sprache übersetzen. Und dass man besser selbst mental einigermaßen gesund sein sollte, bevor man meint, dass am eigenen Wesen die ganze Welt genesen könnte.