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Von Gérard Bökenkamp
Von Beginn der Coronakrise an wurden Corona und Klimawandel in einem Atemzug genannt. Tatsächlich sind die Parallelen unübersehbar. In beiden Fällen geht es um eine unsichtbare Bedrohung durch ein Naturphänomen. In beiden Fällen prägen Wissenschaftler mit schwer nachvollziehbaren Daten und Modellen das Bild, die daraus die Notwendigkeit von Beschränkungen der persönlichen Freiheit ableiten. In beiden Fällen beugt sich ein Großteil der Bevölkerung den Verboten und Einschränkungen der persönlichen Freiheit. In beiden Fällen entstehen radikale Bewegungen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion und Zero-Covid, die sogar noch radikalere Maßnahmen fordern und an charismatische Erweckungsbewegungen und Endzeitsekten erinnern. In beiden Fällen werden „Leugner“ und „Skeptiker“ als Gefahr identifiziert, die die Abwendung der Katastrophe verhindern. Nach dem Lockdown soll ein Klima-Lockdown erfolgen und beides soll nahtlos ineinander übergehen.
Niklas Luhmann traf die Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Zum sozialen System Gesellschaft gehört nur, was im sozialen System kommuniziert wird. „Klima“ und „Corona“ an sich sind kein Teil der Gesellschaft, nur die Kommunikation über Klima und Corona sind Teil der Gesellschaft. Die Art, wie über sie kommuniziert wird, sagt mindestens so viel über die Gesellschaft aus, die über sie kommuniziert wie über die Naturphänomene, über die kommuniziert wird. Die Kommunikation über Klima und Corona zeigt religiöse Elemente. In der Klima- und Corona-Politik finden wir vier klassische Motive der Religionsgeschichte:
Corona und Klima haben deshalb eine solche Resonanz gefunden, weil sie in das Vakuum vorgestoßen sind, das die klassischen Religionen hinterlassen haben. Naturkatastrophen und Seuchen werden bereits in der Bibel als Strafen für moralisches Fehlverhalten verstanden. Am berühmtesten sind die zehn Plagen, die Gott über das pharaonische Ägypten verhängt, um es für die Versklavung der Israeliten zu bestrafen. Diese uralte Erzählung hat nichts von ihrer epischen Kraft verloren. Wenn im Rheinland das Wasser über die Ufer tritt oder Infektionszahlen steigen, dann wird die Ursache in moralischen Verfehlungen gesucht.
Die Nichteinhaltung der Masken-Pflicht und der Abstandsregeln, die unnötigen Fernflüge für die eigene Entspannung und der zu hohe Stromverbrauch, letztendlich unser „falsches Leben“ in der westlichen Gesellschaft, das durch Lebensgenuss, „Materialismus“ und Konsum gekennzeichnet ist. Hinzu kommt Häresie, der Abfall vom „wahren Glauben“, durch „Skeptiker“ und „Leugner“, die die große moralische Läuterung durch ihre Einflüsterungen hintertreiben. Dafür straft uns „Gott“ in dem pantheistischen Selbstverständnis unserer Zeit, die „Natur“, indem sie uns Viren, Krankheiten, Fluten und Dürren schickt.
Weil Corona und Klima göttliche Strafen für die Sünde sind, lassen sich diese Probleme auch nicht pragmatisch und praktisch angehen. Coronatote zu vermeiden und die Klimakatastrophe abzuwenden, ohne zugleich die „Sünde“ auszulöschen, ist sinnlos. Die Moral dient nicht dem Kampf gegen Corona und Klimawandel, sondern Corona und der Klimawandel dienen der Moral. Pragmatische Ansätze wie der Schutz der Risikogruppen durch Tests in den Pflegeheimen oder eine Ausweitung des Zertifkate-Handels oder der Ausbau der Kernenergie vermeiden vielleicht Corona-Tote und den Ausstoß von CO2, sie erreichen aber nicht das eigentlich Ziel: die moralische Läuterung der Gesellschaft, weshalb sie in Deutschland in der Regel ignoriert oder verworfen wurden.
Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen und das Tempolimit auf Autobahnen und die vielen Verbote und Klimabestimmungen sind im Vergleich dazu wirkungslos, erfüllen aber den eigentlichen Zweck: den Einzelnen zu Umkehr und Buße zu bewegen. Auf den Punkt gebracht, könnte man sagen: Einfache Lösungen sind unmoralische Lösungen. Damit eine Lösung als moralisch empfunden wird, muss der Einzelne Last und Leiden auf sich nehmen. Die einzige Möglichkeit der Rettung vor dem sicheren Untergang – dass uns nicht die göttliche Strafe treffen möge, wie einst Sodom und Gomorra, oder wir den langen Weg durch die Dürre der Wüste antreten müssen wie das Volk Israel nach dem Tanz um das goldene Kalb – ist der Weg der Unterwerfung unter das soziale Gebot, die Unterordnung der Wünsche und Bedürfnisse des Individuums unter das Interesse der Gemeinschaft, der Weg der Entsagung und Umkehr.
Der Aufruf von Politikern an Opferbereitschaft, Anstrengung, Verzicht und Unterwerfung fällt angesichts einer Katastrophe auf einen psychologisch fruchtbaren Boden. Denn es gibt das universelle Phänomen, dass Menschen angesichts einer Bedrohung damit beginnen, sich selbst Entbehrungen aufzuerlegen und Schmerzen zuzufügen. Dieser rituelle Masochismus kann in verschiedener Form auftreten. Bekannt sind etwa die Geißelungsprozessionen im Mittelalter angesichts des Schwarzen Todes oder auch das sogenannte Fingeropfer, bei denen sich Menschen ein Körperglied abschneiden, um die Katastrophe aufzuhalten.
Es kann sich aber auch in der Form manifestieren, wie es von einem Reisenden in Afrika berichtet wird, etwa dass ein Passagier auf einem Boot inmitten des Sturms damit begann, Dollarnoten in den aufgewühlten See zu werfen, um ihn zu besänftigen. Entscheidend dabei ist, dass das Opfer für den Betreffenden schmerzhaft sein muss. Ein nicht schmerzhaftes Opfer hat keinen Effekt. Sich selbst auf öffentlichen Plätzen durch Masken die frische Luft zu nehmen, menschlichen Kontakt zu vermeiden und sich selbst unter Hausarrest zu stellen und vom sozialen Leben abzuschneiden, erfüllt die Kriterien eines religiösen Opfers.
Die positive Resonanz auf den Lockdown bei breiten Teilen der Bevölkerung ist damit zu erklären, dass es in der säkularen postheroischen Gesellschaft eine unbefriedigte Sehnsucht danach gibt, Opfer bringen zu dürfen, denn das Opfer ist zugleich eine Form der Selbsterhöhung und Selbstaufwertung. Dieser primitive religionspsychologische Mechanismus ist auch in westlichen Gesellschaften am Werk. Wir mögen uns noch so sehr einreden, dass unsere Zivilisation auf der rationalen Grundlage der Aufklärung besteht, die politische Praxis und das Sozialverhalten weiter Teile der Bevölkerung belehrt uns jeden Tag eines Besseren. Wir sind in denselben atavistischen Verhaltensmustern verhaftet wie unsere Vorfahren, wir haben ihnen nur eine andere Form gegeben.
Der Religionsforscher Walter Burkert hält angesichts der weiten Verbreitung dieser Bußrituale sogar eine soziobiologische Grundlage dieses Verhaltens für plausibel. In uns Menschen ist ein Bedürfnis nach Entsagung, Einschränkung und Selbstkasteiung bis zur physischen und psychischen Selbstverstümmelung angelegt, das immer dann aktiviert wird, wenn wir uns einer Gefahr gegenübersehen, sei sie real oder erfunden. Die Corona-Maßnahmen und die Klima-Politik wurden nicht von einer so breiten Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen, obwohl sie eine Einschränkung des normalen Lebens sind und dem Einzelnen Mühen und Opfer abverlangen, sondern gerade, weil sie es tun. Sie befriedigen damit ein tiefsitzendes spirituelles Bedürfnis nach „Opfer“, „Buße“ und „Unterwerfung“.
Diese eigentliche Ursache der Katastrophen, die moralischen Verfehlungen und der Verstoß gegen göttliche Gebote, werden, wie Burkert schreibt, von den „wissenden“ Vermittlern in transzendenter Diagnose erfasst. Diese begründen damit die religiösen Rituale. Diese „wissenden Vermittler“ sind zum Beispiel Heilige, Propheten und Priester. Diese archetypischen Figuren finden wir auch heute. Da ist die „reine Jungfrau“ in Gestalt der heiligen Greta Thunberg, da ist der weltentsagende Asket, verkörpert durch Karl Lauterbach, und die Priesterschaft, repräsentiert durch Christian Drosten und Hans-Joachim Schellnhuber. Nur berufen sie sich nicht auf göttliche Offenbarung, sondern auf die Wissenschaft, der praktisch aber dieselbe Funktion zukommt. Franz Werfels Roman über den Propheten Jeremiah trägt den Titel „Höret die Stimme“. Das wird transformiert in Greta Thunbergs „Hört auf die Wissenschaft.“ Die religiösen Anklänge liegen auf der Hand.
Dass die Wissenschaft heute als Quelle der Rechtfertigung für die bestehende Moral, nicht aber als Instrument des interessenlosen Erkenntnisgewinns geachtet wird, zeigt der Umstand, dass ihre Ergebnisse nur dann auf breite Akzeptanz stoßen, wenn sie die politischen und moralischen Überzeugungen legitimieren, nicht aber, wenn sie sie infrage stellen. Als Thilo Sarrazin etwa in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ seine Thesen zur Erblichkeit der Intelligenz mit dem Stand der Forschung zu diesem Thema begründete und auch die Überprüfung der FAZ ergab, dass er diesen adäquat wiedergegeben hatte, führte das nicht zu der Akzeptanz seiner Thesen, sondern dazu, dass die Forschung selbst infrage gestellt wurde. „Wissenschaft“ wird immer dann als Autorität herangezogen, wenn ihre Ergebnisse den herrschenden Diskurs stützen, nicht aber, wenn sie ihm widersprechen.
Von der „Wissenschaft“ erwarten Politik und Öffentlichkeit nicht mehr neue Erkenntnisse, die Überprüfung oder gar Widerlegung bestehender Annahmen, sondern die Bestätigung der vorherrschenden Vorstellungen und Normen. Der „Wissenschaftler“ erscheint in der Corona- und der Klimakrise nicht als Forscher, der wertneutral über seine Ergebnisse berichtet und Humes Diktum folgt, dass Sollen nicht aus Sein geschlossen werden, also aus einer wissenschaftlichen Erkenntnis keine ethische Norm abgeleitet werden kann. Sondern als Verkünder, Mahner und Gewissensinstanz, also in allen Funktionen, die in früheren Zeiten die Priester ausgeübt haben. „Wissenschaft“ ist in der westlichen Welt zum Religionsersatz geworden. Klima- und Coronamodelle erheben als letzte Rechtfertigung für die Regeln der sozialen Ordnung den Anspruch einer göttlichen Offenbarung, in der absolute, nicht mehr hinterfragbare Wahrheiten verkündet werden.
Neben der Suche nach der „moralischen Schuld“ und dem religiösen Opfer ist in der Klima- und Coronapolitik ein dritter universeller psychologischer Mechanismus am Werk, die Unterscheidung zwischen „rein“ und „unrein“. Die britische Anthropologin Mary Douglas veröffentliche im Jahr 1966 ein berühmtes Buch „Reinheit und Gefährdung“. Douglas war der Ansicht, dass die „Vorstellung vom Trennen, Reinigen, Abgrenzen und Bestrafen von Überschreitungen vor allem die Funktion haben, eine ihrem Wesen nach ungeordnete Erfahrung zu systematisieren“. Die Trennung der Welt in Rein und Unrein schafft Ordnung in einer ungeordneten Welt. Dabei ist charakteristisch, dass die Trennung in Rein und Unrein sich auf unsichtbare Gefahren bezieht. Die Bedrohung kommt aus einer sinnlich nicht wahrnehmbaren Welt und greift über in die sichtbare Welt der Erscheinungen.
Die Parallele zu der vorherrschende Corona- und Klima-Angst ist evident. Bei Covid-19 und CO2 in der Atmosphäre handelt es sich um solche unsichtbaren Phänomene, die mit der Vorstellung von Verschmutzung und Verunreinigung verbunden sind. An die Stelle von Geistern und Dämonen treten Viren und Treibhausgase. Wie bei archaischen Kulturen besteht die Antwort in die gesamte Gesellschaft erfassenden Reinigungsritualen. Bei der Trennung der Geimpften von den Ungeimpften geht es um die Trennung der Reinen von den Unreinen. Dazu gehört auch die Unterscheidung zwischen „sauberer Energie“ wie Wind und Sonne und fossilen Brennstoffen und Kernenergie. Auch veganes Essen, klimaneutrales Reisen, Mülltrennung, Desinfizieren und Maske tragen gehören zu den allgegenwärtigen Reinigungsritualen.
Coronakrise und Klimawandel ermöglichen neue Formen der Sozialdisziplinierung und die Durchsetzung der Priorität des Kollektivs gegenüber dem Individuum, einschließlich der Ächtung, Ausgrenzung, Bestrafung und Marginalisierung all derjenigen, die sich diesem Versuch der Sozialdisziplinierung widersetzen. Die westlichen Gesellschaften werden nicht mehr durch Verwandtschaftsverhältnisse zusammengehalten wie traditionelle Stammesgesellschaften und auch nicht mehr durch die Identifikation mit einem ethnisch-nationalen Kollektiv. Die Legitimation der sozialen Regeln erfolgt nicht mehr durch die Bezugnahme auf eine klassische Religion. Die Corona- und Klimapolitik ist der großangelegte Versuch, der entnationalisierten und sich atomisierenden Weltgesellschaft wieder Ziel, Richtung und Ordnung auf der Grundlage pseudowissenschaftlich verbrämter Heilserwartung und apokalyptischer Endzeitversionen zu geben.
Dr. Gérard Bökenkamp, geb. 1980, ist Historiker. Sein Forschungsschwerpunkt ist Wirtschafts- und Zeitgeschichte, besonders die Geschichte der internationalen Politik. Für seine Doktorarbeit mit dem Titel „Das Ende des Wirtschaftswunders“ wurde er 2011 mit dem Europapreis des Vereins Berliner Kaufteute und Industrieller (VBKI) ausgezeichnet. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel, Rezensionen, Blog- und Radiobeiträge zu politischen und wirtschaftlichen Themen.