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Diese Beiträge sind Auszüge aus dem Buch „Freie Privatstädte – mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt“ von Titus Gebel, in dem er unter anderem Stadtstaaten aus Vergangenheit und Gegenwart untersucht. Titus Gebel ist Unternehmer und promovierter Jurist. Er gründete unter anderem die Deutsche Rohstoff AG. Er möchte mit Freien Privatstädten ein völlig neues Produkt auf dem „Markt des Zusammenlebens“ schaffen, das bei Erfolg Ausstrahlungswirkung haben wird. Zusammen mit Partnern arbeitet er derzeit daran, die erste Freie Privatstadt der Welt zu verwirklichen.
Die Entwicklung von Hong Kong ist ein Beispiel dafür, wie ein Stadtstaat sich aus einfachen Anfängen mit einem freiheitlichen System zu beachtlichem Wohlstand und auch zu enormer Größe hocharbeiten kann. Von 7.500 Köpfen im Jahre 1843 wuchs die Bevölkerung bis heute auf über sieben Millionen. Für viele Festlandchinesen war die britische Kolonie Zufluchtsort vor dem chinesischen Bürgerkrieg und später der kommunistischen Volksrepublik China. Lebensqualität und Lebenserwartung, Pro-Kopf-Einkommen und Wirtschaftsfreundlichkeit in Hong Kong gehören zur Weltspitze.
Hong Kong stand von 1843 bis 1997 unter britischer Verwaltung, konnte aber insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitgehende faktische Autonomie erlangen. Dies ermöglichte seiner Führung während einer Zeit, in der im Mutterland und anderswo Planwirtschaft, Protektionismus und Keynesianismus hoch im Kurs standen, das genaue Gegenteil zu tun. Hong Kong ließ freie Märkte zu, hielt die Steuern niedrig und machte keine Schulden, sondern baute stattdessen eine Reserve in Höhe eines Jahresbudgets auf.
Das ermöglichte hohe Wachstumsraten über Jahrzehnte. Im Grunde war es nur eine kleine Gruppe von englischen Kolonialbeamten, welche diese Richtung festlegte. Beraten wurden sie von offiziellen und inoffiziellen Mitgliedern des Legislative Council, die letzteren meist chinesische Geschäftsleute. Im Jahre 1959 stellte der damalige Gouverneur Robert Black vor diesem Gremium fest, dass Hong Kong wohl das einzige verbliebene Land auf der Welt mit echtem Freihandel sei. Er fügte hinzu, dass er darauf stolz sei und sicher, dass es allen Anwesenden auch so ginge. Ziel war, durch Vollbeschäftigung den Lebensstandard aller zu erhöhen und so auch die vielen Migranten aus China zu integrieren.
Einmischung in die Wirtschaft als Ausnahme
Der Finanzchef Hong Kongs, John Cowperthwaite, leitete daraus die Doktrin des Positiven Non-Interventionismus ab, wonach die Regierung sich nur in engen Ausnahmefällen in die Wirtschaft einmischt, und stattdessen den rechtlichen und infrastrukturellen Rahmen schafft, damit eine marktbasierte Entwicklung erleichtert wird. Hong Kong hat also im Gegensatz zum britischen Mutterland freie Märkte ohne Umverteilung zugelassen und damit enorme Erfolge erzielt. Der direkte Vergleich zwischen den beiden Systemen geht eindeutig zugunsten Hong Kongs aus, es hat das Vereinigte Königreich bereits seit den 1990er Jahren in allen maßgeblichen Kennzahlen überholt. Cowperthwaite hatte erkannt:
„Auf lange Sicht ist die Summe der Entscheidungen der Geschäftsleute in einer freien Wirtschaft, die diese jeweils aufgrund ihrer persönlichen Einschätzungen treffen, auch wenn diese oft falsch sind, weniger schädlich als jede zentralisierte Entscheidung einer Regierung; und in jedem Fall wird bei einer unternehmerischen Fehlentscheidung schneller gegengesteuert.“
Jeder Dollar, den die Regierung dem Steuerzahler wegnimmt, so führte er weiter aus, hätte andernfalls von diesem dazu verwendet werden können, ein Bedürfnis zu decken, sein Wohlbefinden zu erhöhen oder eine profitable Investition zu tätigen. Es ist Cowperthwaites Beharrlichkeit und intellektueller Unabhängigkeit zu verdanken, dass dieser Weg gegen alle Begehrlichkeiten auch in Zeiten des Abschwungs durchgehalten wurde. An Bestrebungen zu Steuererhöhungen, Importbeschränkungen, Preiskontrollen und mehr staatlicher Aktivität war auch in Hong Kong kein Mangel.
Zum Thema fehlende politische Mitbestimmung führte etwa Gouverneur Grantham bei seiner Abschiedsrede aus, dass Kritiker häufig übersehen würden, dass auch Demokratie kein Selbstzweck sei, sondern nur Mittel zum Zweck, nämlich um individuelle Freiheit zu garantieren. Hong Kong sei zwar nicht demokratisch verfasst, aber die Freiheit gewährleistet, und es gebe wenige Plätze auf der Welt, wo die Leitidee „Leben und leben lassen“ so gut verwirklicht sei. Grantham hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Während er seinerzeit argumentierte, dass es (ausnahmsweise) auch ohne Demokratie Freiheit geben könne, ist heute die Frage zu stellen, ob insbesondere die wirtschaftliche Freiheit in demokratischen Systemen überhaupt überleben kann.
Die Crux mit den Interventionsbegehren
Angesichts der Tendenz der Mehrheit, vom Staat Eingriffe aller Art zu verlangen, erscheint die dauerhafte Gewährleistung einer freien Marktwirtschaft nach dem Modell Hong Kongs in Demokratien nicht möglich. Wenn schon ein entschlossenes Regierungsmitglied wie Cowperthwaite in einem nichtdemokratischen System nur unter größten Anstrengungen alle möglichen Interventionsbegehren abwenden kann, dann ist dies in einer Demokratie wohl aussichtslos.
Ein Cowperthwaite würde einfach abgewählt werden; eine Position der Nichteinmischung, also des Nichtstuns, steht im politischen Kampf um Wählerstimmen auf verlorenem Posten. Sein Ansatz wäre auf mittlere und lange Sicht zwar nachweislich zum Nutzen der Wähler, wie gerade die Entwicklung Hong Kongs gezeigt hat. Aber so viel Geduld haben Mehrheiten nicht. Das erkannten bereits zeitgenössische Beobachter. Der Wirtschaftsjournalist Rabushka schrieb 1973, dass das erfolgreiche ökonomische Modell Hong Kongs nur möglich sei, weil es keine Wahlen geben würde.
Deng Xiaopeng, welcher die marktwirtschaftliche Öffnung der Volksrepublik China einleitete und der vielleicht einer der größten chinesischen Reformer überhaupt ist, soll sich Hong Kong zum Beispiel genommen haben. Er erkannte, dass das Wirtschaftssystem von Hong Kong offensichtlich funktionierte, das der Volksrepublik aber nicht. Das betraf insbesondere das Bestehen freier Märkte und das Recht, Privateigentum zu erwerben, auch an Produktionsmitteln. Nach dem Vorbild Hong Kongs wurden daher seit Beginn der 1980er Jahre Sonderwirtschaftszonen im ganzen Land eingerichtet, etwa in Shenzhen.
Diese haben sich so nachhaltig bewährt, dass sie immer weiter ausgedehnt wurden und China seither einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung genommen hat. Schließlich wurde das System freier Märkte auf das ganze Land ausgedehnt. Heute muss niemand mehr hungern in China. Vorher schon. Man kann also die Auffassung vertreten, dass Hong Kong aufgrund seiner Vorbildfunktion China weit mehr verändert hat, als es durch die politische Übernahme selbst verändert wurde.
Diese erfolgte im Jahr 1997. Seitdem ist Hong Kong eine chinesische Sonderverwaltungszone, die von einem sogenannten Chief Executive geleitet wird, unter Beibehaltung einer Marktwirtschaft, eigener auf dem englischen Recht beruhender Gesetze, eigener Behörden, eigener Währung und innerer Autonomie. Nach dem 1984 zwischen China und dem Vereinigten Königreich vereinbarten Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ behält Hong Kong für mindestens 50 Jahre nach der Übernahme seinen eigenständigen politischen und wirtschaftlichen Status. Ausgenommen sind Außenpolitik und Verteidigungsangelegenheiten. Insofern ist der Status von Hong Kong durchaus Modell für das Verhältnis einer Freien Privatstadt zum Gastgeberstaat.
Manchmal muss man in die Ferne schweifen, um zuhause klarer zu sehen. Wie ein geordnetes Einwanderungsregime und die Sicherung von Seegrenzen funktionieren, zeigt der EU etwa Australien.
Von Singapur kann man auch etwas lernen. Nämlich, wie wirtschaftlicher Wohlstand geschaffen wird (es könnte ja mal wieder nötig sein) und wie man freie Märkte mit sozialer Absicherung verbindet. Ferner, wie man einer der sichersten Staaten der Welt wird, bei gleichzeitig strikter Rechtsstaatlichkeit. Weiter, wie man trotz starker muslimischer Minderheit keine Probleme mit Fundamentalismus und Terror hat. Und endlich, wie man ein funktionierendes und finanzierbares Gesundheitssystem auf die Beine stellt. Das ist eine ganze Menge. Wir werden sehen, dass vieles davon auf andere Systeme übertragbar ist, ohne die semi-autoritäre Regierungsform von Singapur übernehmen zu müssen.
Singapur hat sich seit der Unabhängigkeit 1965 innerhalb von 50 Jahren zu einer der reichsten Städte der Welt entwickelt. Der Stadtstaat schaffte innerhalb einer Generation den Sprung vom Entwicklungsland zu einer Industrienation. Er muss also irgend etwas richtig machen. Singapur war nach der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1963 zunächst Teil des neu formierten Staates Malaysia, verließ diesen aber bereits zwei Jahre später, und zwar aufgrund von Differenzen über die institutionalisierte Bevorzugung ethnischer Malaien gegenüber Chinesen. Noch heute werden die ethnischen Chinesen in Malaysia kraft Gesetzes benachteiligt, nur weil sie Chinesen sind. Da in dieser Konstellation aber keine Weißen als Täter beteiligt sind, hat sich noch kein Antirassismus-NGO je dafür interessiert.
Am treffendsten als semi-autoritäres System einzustufen
Ohne Rohstoffe, nennenswertes Hinterland und etablierte Strukturen, dafür aber mit einer gemischten Bevölkerung ohne einheitliche Kultur und Religion, war der erste Premierminister und als Vater des modernen Singapur geltende Lee Kuan Yew (genannt Harry, 1923-2015) vor die Aufgabe gestellt, ein stabiles Gemeinwesen aufzubauen. Obwohl ursprünglich Sozialist, erkannte er, dass die Stadt am besten mit Freihandel, Anreizen für Unternehmensgründungen und einer möglichst unregulierten Wirtschaft gedeihen kann. Entgegen der teilweise noch heute im Westen verbreiteten Auffassung, internationale Großkonzerne würde arme Entwicklungsländer ausbeuten und dort nur verbrannte Erde hinterlassen, begriff Lee Kuan Yew, dass die Ansiedlung solcher Multis Arbeitsplätze und damit Wohlstand im großen Stil schaffen kann. Und so geschah es, zum Vorteil Singapurs.
Diese wirtschaftliche Freiheit, kombiniert mit einer Beschränkung der demokratischen und politischen Rechte bei strikter Regeldurchsetzung zur Aufrechterhaltung „sozialer Harmonie“, prägen die Entwicklung Singapurs bis heute. Die Partei des Staatsgründers hat seit der Unabhängigkeit jede Wahl gewonnen. Faktisch handelt es sich um ein Einparteiensystem. Da dies verbunden ist mit eingeschränkter Presse- und Meinungsfreiheit und vielfältigen Beschränkungen persönlicher Freiheiten, ist Singapur am treffendsten als semi-autoritäres System einzustufen. Die Kombination einer autoritären, rein sachorientierten Regierung mit dem Willen zu guter Regierungsführung und der internen Auswahl nach den Kriterien Verdienst und Leistung wird offiziell als Erfolgsrezept des Singapurer Modells angesehen.
Singapur ist gleichzeitig ein multiethnischer und multireligiöser Stadtstaat, in dem die ethnischen Chinesen die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe stellen, gefolgt von Malaien und Indern. Es gehört zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen weltweit und nimmt internationale Spitzenplätze ein, was Erziehung, Gesundheitsversorgung, Lebenserwartung, Lebensqualität und persönliche Sicherheit angeht. 90 % aller Wohnungen werden von ihren jeweiligen Eigentümern bewohnt. Obwohl es vier offizielle Sprachen gibt, ist Englisch die gemeinsame Lingua Franca und die am weitesten verbreitete Sprache. Die Wirtschaft von Singapur gilt als eine der freiesten, innovativsten, wettbewerbsfähigsten, dynamischsten und wirtschaftsfreundlichen in der ganzen Welt. Es gibt keinen Mindestlohn und so ist die Arbeitslosenrate auch eine der weltweit niedrigsten. Singapur hat daneben niedrige Steuersätze, keine Korruption, gute Infrastruktur und qualifizierte Arbeitskräfte und ist daher sehr attraktiv für ausländische Firmen. Tausende multinationaler Unternehmen haben Sitz oder Niederlassung in Singapur. Die Wirtschaft ist diversifiziert, die Hauptzweige sind Finanzdienstleistungen, Erdölraffinade, Produktion elektronischer Bauteile und Tourismus. Singapur ist auch ein Sozialstaat
Trotz seiner großen wirtschaftlichen Freiheiten ist Singapur auch ein Sozialstaat. Es gibt Beihilfen und Programme von der Unterbringung über die medizinische Versorgung bis hin zur Schulausbildung für die Kinder. Lee Kuan Yew zufolge führe nur eine Marktwirtschaft zur Prosperität, schaffe aber auch Verlierer bzw. Menschen, die sich als solche fühlten. Daher müsse zum Erhalt der sozialen Harmonie der Staat einen Ausgleich schaffen. Singapur kann es sich inzwischen leisten, allen seinen Bürgern Unterstützung für die medizinische Versorgung, die Strom- und Wasserversorgung sowie den öffentlichen Nahverkehr anzubieten. Hierbei werden die eigenen Staatsbürger bevorzugt.
Singapur kann sich das leisten, weil es konsequent die Staatsquote niedrig gehalten hat (ca. 19 Prozent) und die dadurch den Bürgern verbleibenden Dollars der wirtschaftlichen Entwicklung zugute kommen, entweder durch Konsum oder Investition. Dazu ein Rechenbeispiel: Eine Gesellschaftsordnung wie die Singapurs, die jährlich mit 5 Prozent wächst, aber nur eine Staatsquote von 20 Prozent hat, gibt zunächst weniger für jeden Einzelnen aus als ein System wie Deutschland, das eine doppelt so hohe Staatsquote, aber nur eine Wachstumsrate von 2 Prozent pro Jahr hat. Nach 24 Jahren geben aber beide Gesellschaften in absoluten Zahlen gleichviel pro Bürger aus und nach 48 Jahren kann das schlankere, aber wachstumsstärkere System trotz viel niedrigerer Staatsquote jedem Einzelnen gar das Doppelte zukommen lassen. Das Rechtssystem von Singapur basiert auf englischem Common Law mit signifikanten lokale Eigenheiten. Das Gerichtssystem gilt als eines der zuverlässigsten und besten in Asien. Singapur kennt im Bereich des Strafrechts drakonische Strafen, wie die Todesstrafe, die für Mord obligatorisch ist und Prügelstrafen etwa für Graffiti. Lee Kuan Yew begründet dies damit, dass seine eigene Erfahrung gezeigt habe, dass Armut nicht automatisch zu Kriminalität führe, wie westliche Soziologen das behaupten. Während der japanischen Besatzung habe es kaum genug zu essen gegeben, trotzdem wäre die Stadt sehr sicher gewesen, da die Besatzer drakonische Strafen verfügt hätten.
Zahlreiche Verhaltensweisen stehen unter Strafe, homosexuelle Sexualpraktiken sind etwa verboten. Die überbordende Einmischung des Staates in private Angelegenheiten und das Fehlen persönlicher Freiheiten ist aber als Entwicklungs- und Attraktivitätshindernis erkannt. Das Verbot, bestimmte Kaugummis zu verkaufen, wurde 2004 ebenso aufgehoben wie 2007 das Verbot des Oral- und Analverkehrs, das auch für verheiratete Paare galt.
Enge Kooperation mit Israel in Sicherheitsfragen
Singapur hat eine für seine Größe beachtliche Armee mit modernen Kampfpanzern, Flugzeugen, Schiffen und sogar U-Booten. Es herrscht Wehrpflicht und es finden regelmäßig Reserveübungen statt. Etwa 250.000 Singapurer sind entweder im aktiven Dienst oder Reservisten. Beim Aufbau der Armee hatte Singapur von Israel Unterstützung erbeten und noch heute besteht eine enge Kooperation in Sicherheitsfragen. Für Lee Kuan Yew waren – und das gilt auch für die heute Verantwortlichen – Sicherheit und Prosperität stets eine Einheit. Diplomatie bezeichnete er als wichtigstes außenpolitisches Instrument, die ohne glaubwürdige militärische Komponente aber zahnlos bleibe. Trotz seines beeindruckenden militärischen Potenzials ist Singapur außen- und sicherheitspolitisch zurückhaltend.
Die Religionsfreiheit ist in der Verfassung verankert und wird auch gewährleistet. Singapur verfolgt dabei das Konzept des wehrhaften Säkularismus (muscular secularism). Religiöser Extremismus wird nicht toleriert und umgehend geahndet, da dieser aufgrund der Zusammensetzung der Bevölkerung als Gefahr für die soziale Harmonie angesehen wird. Herabsetzungen Andersgläubiger sowie missionarische Aktivitäten, mit denen die religiöse Harmonie gestört werden könnte, sind gesetzlich verboten. An den Schulen herrscht Kopftuchverbot. Singapur sieht sich als säkularer Staat, in dem die verschiedenen Religionen in Frieden miteinander leben.
Singapur hat strenge Einwanderungsregeln und achtet insbesondere darauf, dass sich die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht zu stark verschieben. Der Stadtstaat legt nach jeweiligem Bedarf und nach Wirtschaftslage fest, welche Qualifikationen zur Einwanderung berechtigen.
Schließlich verpflichtet Singapur seine Bürger, individuelle Gesundheitssparkonten einzurichten und in diese 6-8 Prozent des Lohnes einzuzahlen. Aus diesen wird die Mehrheit der gewünschten Behandlungen vom Inhaber direkt mit den Ärzten abgerechnet, Sonderzahlungen für gewünschte Zusatzleistungen sind jederzeit möglich. Das gleiche gilt für den Abschluss einer zusätzlichen Hochrisikoversicherung für schwerwiegende, teure Behandlungen. Ergebnis: Die Gesundheitsausgaben betragen lediglich 3,5 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts (die meisten westlichen Länder liegen um die 10 Prozent), die medizinische Versorgung gehört ebenso wie die Lebenserwartung zur Weltspitze. Die angesparten Mittel bleiben im Eigentum des Zahlers und können bei dessen Tod vererbt werden. Für Bedürftige, etwa 10 Prozent der Bevölkerung, gibt es einen medizinischen Stiftungsfonds, der seine Leistungen ausschließlich aus seinen Anlageerträgen erbringt.
Man muss nicht alles gut finden, was in Singapur geschieht. Einiges ist aber durchaus nachahmenswert. Und wenn wir die Gesamtsituation dort mit unserer jetzigen Lage vergleichen, wird deutlich, warum Westeuropa zunehmend weniger als Goldstandard für aufstrebende Länder gilt.
Als ich vor Jahren das erste Mal nach Monaco kam, benutzte ich in Begleitung eines ortskundigen Freundes die öffentlichen Stadtbusse. Nachdem wir in eine andere Linie umgestiegen waren, wies er mich darauf hin, dass der Fahrer dieses Wagens ein Deutscher aus Berlin sei. Das überraschte mich und ich fragte den Busfahrer beim Aussteigen, wie es denn komme, dass er hier in Monaco arbeite? Er entgegnete nur: „Wo würden Sie denn lieber Bus fahren, in Marzahn oder in Monaco?“ Das leuchtete mir unmittelbar ein.
Von Monaco wird kolportiert, dass 30 Prozent aller Einwohner über ein liquides Vermögen von mehr als einer Million US-Dollar verfügen. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass 70 Prozent mehr oder weniger normale Menschen sind. Im Lauf der Jahre habe ich viele Arbeitnehmer in Monaco befragt, die meisten waren Tagespendler aus Frankreich und Italien, und der Befund ist eindeutig: Wenn die Mieten nicht so exorbitant hoch wären, würden fast alle das monegassische System bevorzugen und sich in Monaco niederlassen. Die Immobilienpreise sind aber nur so hoch, weil Monaco so wenig Fläche hat. Die sonstigen Lebenshaltungskosten sind vergleichbar mit dem Rest der Cote d’Azur. Schauen wir uns Monacos Gesellschaftsordnung also etwas näher an.
Das Fürstentum ist seit 1911 eine konstitutionelle Monarchie. Meinungsfreiheit, Eigentumsrechte und so weiter sind verfassungsrechtlich garantiert. Der Fürst ernennt die Regierung. Seit der Verfassungsänderung 1962 gibt es ein Parlament, das in freien und geheimen Wahlen auf fünf Jahre gewählt wird. Der Fürst hat aber ein Vetorecht bei Gesetzesvorschlägen des Parlaments. Monaco ist ein Zwergstaat mit nur 2 km² Fläche, nur der Vatikanstaat ist noch kleiner. Darauf leben 38.000 Menschen, es handelt sich somit um das am dichtesten besiedelte Land der Welt. Im Fürstentum arbeiten etwa 50.000 Menschen, die meisten sind Tagespendler aus Frankreich oder dem nahen Italien. Die Arbeitnehmer haben im Wesentlichen die gleichen Rechte und soziale Absicherung wie in Frankreich, und es gibt sogar Sozialhilfeempfänger, die in Regierungswohnungen leben.
Trotz formeller Anerkennung als souveräner Staat nimmt das Verhältnis zu Frankreich eine Sonderstellung ein, welche die Unabhängigkeit Monacos in gewisser Weise einschränkt. Monaco hat im Laufe der Jahrhunderte mehrere Verträge mit Frankreich geschlossen und darin das gegenseitige Verhältnis definiert. So wurde auch die letzte große Krise zwischen den beiden Staaten vertraglich gelöst. Der 1963 letztlich erzielte Kompromiss sieht vor, dass Personen mit französischer Staatsbürgerschaft, die nicht schon vor 1962 in Monaco lebten, nach Frankreich versteuern.
Es geht also auch ohne Einkommensteuer
Außerdem übernimmt Monaco den jeweiligen französischen Mehrwertsteuersatz (derzeit 20 Prozent) und führt einen Teil der Mehrwertsteuer nach Frankreich ab. Das Fürstentum verpflichtete sich weiter, seine Souveränitätsrechte so auszuüben, dass die wirtschaftlichen und politischen Interessen Frankreichs gewahrt bleiben. Dazu zählt auch, keine in Frankreich unerwünschten Personen einreisen zu lassen. Frankreich übernimmt im Gegenzug die Verantwortung für die äußere Sicherheit Monacos. Das Fürstentum hat eine Zollunion mit Frankreich, über die es auch am EU-Markt teilnimmt, ist aber selbst kein Mitglied der Europäischen Union. Monaco benutzt den Euro als Währung und hat auch von der EU das Recht erhalten, eine gewisse Anzahl an Münzen selbst zu prägen.
Monaco gilt als der Staat mit der niedrigsten Armutsquote und der höchsten Lebenserwartung weltweit. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war Monaco arm, die Einwohnerschaft war zu einem Zeitpunkt gar auf 300 Menschen zurückgegangen. Erst mit Eröffnung eines erfolgreichen Kasinos sowie des Bahnanschlusses 1868 gelang die Wende. Als die jährlichen Einnahmen aus dem Kasinobetrieb 95 Prozent des Staatshaushaltes finanzierten, entschied der damalige Fürst, seinen Untertanen fortan die Steuern zu erlassen. Dabei ist es im Grundsatz bis heute geblieben.
Monaco erhebt weder Einkommens- noch Erbschaftssteuern noch Steuern auf Kapitalgewinne. Unternehmen, welche die Masse ihrer Einkünfte außerhalb Monacos erwirtschaften, zahlen allerdings Unternehmenssteuern. Hinzu kommt die erwähnte Mehrwertsteuer, welche heute etwa die Hälfte des Staatshaushaltes finanziert. Einnahmen aus staatlichen Kasinos und Hotels spielen nur noch eine untergeordnete Rolle (etwa 5 Prozent), der Rest wird durch Unternehmenssteuern, Immobiliensteuern und sonstige Abgaben finanziert. Der Haushalt weist einen leichten Überschuss aus, und Monaco ist nicht nur schuldenfrei, sondern hat darüber hinaus liquide Rücklagen in Höhe von mehr als zwei Jahresbudgets. Es geht also auch ohne Einkommensteuer.
Etwa 80 Prozent der Bevölkerung sind Ausländer ohne monegassische Staatsbürgerschaft, welche praktisch nur durch Abstammung oder Heirat zu erlangen ist. Es leben Menschen aus 139 Nationen friedlich zusammen. Monaco hat die weltweit niedrigste Kriminalitätsrate trotz fehlender Grenzkontrollen, zehntausender Pendler und ebenso vieler Besucher täglich. Aufgefallene Neubürger haben schlechte Karten. Wie ist das möglich? Das Fürstentum hat weltweit die höchste Polizeidichte pro Kopf und überwacht sein gesamtes Territorium mit Kameras; auf etwa 70 Einwohner kommen ein Polizist und eine Videokamera. Insgesamt hat die Polizei eine Stärke von 520 Personen. Verdächtige Personen werden durch die Kameraüberwachung erfasst und präventiv von Streifenpolizisten kontrolliert.
Im Übrigen schaut sich Monaco genau an, wen es sich als Bewohner ins Land holt. Wer sich in Monaco niederlassen möchte, muss auch in Frankreich aufenthaltsberechtigt sein, eine Wohnung in Monaco nachweisen (Miete oder Eigentum), über ausreichendes Einkommen oder Vermögen zur Sicherung des Lebensunterhalts verfügen, sowie für alle erwachsenen Familienangehörigen einen Lebenslauf und ein polizeiliches Führungszeugnis seines Herkunftsstaates vorlegen. Auf dieser Grundlage wird dann eine Internetrecherche gemacht und ein persönliches Gespräch mit einem Polizeioffizier geführt. Bestehen keine Bedenken, vergibt Monaco eine Aufenthaltsgenehmigung für zunächst ein Jahr, welche noch zweimal um jeweils ein Jahr verlängert werden kann, bevor dann eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis erteilt wird und so weiter. Dies gibt Monaco die Möglichkeit, bei zweifelhaften oder unangenehm aufgefallenen Neubürgern die Aufenthaltserlaubnis schlicht nicht zu verlängern, anstelle langwierige rechtliche Auseinandersetzungen über den Widerruf einer Aufenthaltsberechtigung zu führen.
Bei Kriminalität kennt Monaco keine Toleranz. Verurteilte Nichtmonegassen müssen, gegebenenfalls nach Verbüßung einer Haftstrafe, das Fürstentum wieder verlassen, selbst bei kleineren Vergehen wie Ladendiebstahl. Es ist die Kombination all dieser Maßnahmen, also die Kameraüberwachung, die strengen Einwanderungsregeln, die Abschiebung von Kriminellen und die starke Polizeipräsenz, die dazu führt, dass Eltern in Monaco ihre Kinder selbst um Mitternacht ohne Bedenken auf die Straße schicken können.
Eigentlich müsste ein „Monaco für Jedermann“ möglich sein.
Und noch ein Gesichtspunkt ist instruktiv. Obwohl das Fürstentum für Nichtmonegassen keinerlei Mitbestimmungsrechte vorsieht, gibt es mehr Interessenten, als der kleine Wohnungsmarkt fassen kann, deshalb wird dem Meer Neuland abgerungen. Wieso ist das so? Steuerfreiheit gibt es doch auch anderswo? Nun, Monaco bietet Sicherheit vor Verbrechen, weitgehende Steuerfreiheit, überschaubare Regeln, gutes Klima und ein bisschen Glamour. Kurz gesagt, Monaco ist attraktiv und lässt seine Einwohner in Ruhe. An dem Tag, an dem in Monaco alle EU-Regulierungen einschließlich Einkommensteuern eingeführt werden, ist das Geschäftsmodell Monaco zu Ende. Die meisten würden dann einfach wegziehen. Das weiß der Fürst und deshalb wird es nicht geschehen. Trotz dessen formal großer Machtposition ist es somit ausschließlich der Wettbewerb mit anderen Plätzen, der den Einwohnern die Freiheit sichert, und nicht etwa ein Parlament, eine Verfassung oder das Recht zu Volksabstimmungen. Der Wettbewerb ist in der Tat das bisher einzig bekannte, dauerhaft wirksame Entmachtungsmittel der Menschheit. Auch in Monaco.
Erwähnt man im Gespräch, dass die politische Ordnung Liechtensteins möglicherweise als Vorbild für Deutschland dienen könne, erntet man in der Regel Hohn und Spott. Bohrt man etwas tiefer, um die Kenntnisse über Liechtenstein abzufragen, ergeben sich in der Regel: wenig bis gar keine.
Das Fürstentum Liechtenstein hat keine gemeinsame Grenze mit Deutschland, es ist zwischen der Schweiz und Österreich als Binnenstaat sozusagen eingeklemmt. Das Staatsgebiet umfasst nur 160 Quadratkilometer, damit ist Liechtenstein der sechstkleinste Staat der Welt. Das Land hat 37.000 Einwohner, davon 34 Prozent (meist deutschsprachige) Ausländer. Hauptstadt ist Vaduz, die alleinige Amtssprache ist Deutsch. Ein souveräner Staat ist Liechtenstein seit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806.
Das Fürstentum hat keine eigene Währung, sondern benutzt den Schweizer Franken und bildet mit der Schweiz auch eine Zollunion. Liechtenstein ist aber, anders als die Schweiz, nach entsprechender Volksabstimmung Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geworden, es gibt Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenfreizügigkeit unter den Mitgliedsstaaten (das sind alle EU-Staaten, Norwegen, Island und Liechtenstein). Die Personenfreizügigkeit konnte von Liechtenstein allerdings auf 64 neue Aufenthaltsgenehmigungen pro Jahr eingeschränkt werden.
Entgegen landläufiger Meinung ist das Fürstentum kein Operettenstaat, der vom Briefmarkenverkauf und windigen Finanzgeschäften lebt. Es handelt sich vielmehr um ein hochindustrialisiertes Land mit stark diversifizierter Wirtschaft, dessen Hauptwertschöpfungszweig die verarbeitende Industrie darstellt, insbesondere der Maschinenbau. Zahlreiche Schweizer, Österreicher und Deutsche pendeln ins Fürstentum zum Broterwerb.
Trotz seiner Kleinheit kann Liechtenstein mit Weltmarktführern aufwarten, bekannt sind etwa Hilti (Bohrmaschinen) oder Ivoclar (Medizintechnik). Etwa 40 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Industriesektor, damit gehört Liechtenstein zu den am stärksten industrialisierten Ländern der Welt! Zum Vergleich: in der Finanzindustrie arbeiten weniger als 10 Prozent der Beschäftigten. Mit einem Unternehmen pro neun Einwohner weist Liechtenstein vermutlich die höchste Unternehmerdichte der Welt auf.
2003 erfolgte eine bedeutende Verfassungsreform
Im Jahre 2003 wurde per Volksabstimmung nach zehnjähriger Diskussion eine bedeutende Verfassungsreform angenommen, welche die Rechte der Bürger, der Gemeinden und des Monarchen zulasten von Parlament und Regierung gestärkt haben. Die Gründe dafür sind instruktiv, da sie grundlegende Probleme von Parlamentarismus und Demokratie beleuchten. Seit den 1990er Jahre hatte sich in Liechtenstein eine Verfassungswirklichkeit ausgebildet, in der die Politiker und Parteien, welche die Parlamentsmehrheit und die Regierung stellten, zunehmend Befugnisse an sich zogen, die in der Verfassung entweder klar dem Fürsten zugewiesen oder deren Zuweisung unklar war. Teilweise wurden sogar Gesetze ohne die verfassungsmäßig notwendige Unterschrift des Fürsten veröffentlicht.
Fürst Hans-Adam II. war damit nicht einverstanden. Er begründete seinen letztlich erfolgreichen Verfassungsänderungsvorschlag damit, dass beide Souveräne, das Volk und der Fürst, aus praktischen Gründen die Staatsaufgaben an kleinere Gruppen delegieren müssten (Politiker, Parteien, Verwaltung), die in der Praxis dann eine überproportionale Bedeutung bekämen, sich in „Oligarchien“ verwandelten. Diese aber versuchten, ihre eigenen Interessen auf Kosten der Interessen aller anderen zu vergrößern. Aufgrund innerer Interessenkonflikte wären sie zunehmend weniger in der Lage, wichtige, aber unpopuläre Entscheidungen treffen.
Es sei Aufgabe des Monarchen, darüber zu wachen, dass die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen durch diese Oligarchie nicht geschwächt und Staatsinteresse vor Parteiinteresse gestellt werde. Langfristig werde der Monarch diese Aufgabe nur wahrnehmen können, wenn er wisse, dass die Mehrheit des Volkes ihn dabei unterstütze. Volk und Monarchie als die schwächeren Elemente seien die natürlichen Verbündeten gegenüber dem stärksten Element im Staat, der Oligarchie.
Er wies gleichzeitig darauf hin, dass er gegebenenfalls auch gegen eine Volksmehrheit sein Veto einlegen müsse. Zu berücksichtigen sei, dass die Mehrheit nicht immer Recht habe und es Aufgabe des Fürsten sei, die Rechte der Minderheiten und der Schwachen zu schützen sowie das langfristige Wohl von Volk und Land zu verteidigen. Sollte dies aber vom Volk nicht gewollt sein, dann solle gemäß dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts das Volk das letzte Wort haben, ohne Rücksicht auf die Wünsche des Fürsten und in der Lage sein, diesem sein Misstrauen auszusprechen oder die Monarchie ganz abzuschaffen.
Eine der innovativsten Landesverfassungen der Welt
Liechtenstein ist daher keine konstitutionelle Monarchie im herkömmlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich um ein weltweit einmaliges Mischsystem zwischen direkter Demokratie und parlamentarisch-konstitutioneller Erbmonarchie. Volk und Fürst haben neben dem Parlament relevante eigene Kontroll- und Mitgestaltungsrechte, die nicht dem Einfluss der Parteien unterliegen; auch die Gemeinden dürfen eigene Gesetzesinitiativen einbringen. Um der Gefahr einer schrankenlosen Mehrheitsherrschaft durch die direkte Demokratie zu begegnen, hat das liechtensteinische System zwei Sicherheitsventile eingebaut: zum einen das Vetorecht des Fürsten auch gegen Ergebnisse von Volksabstimmungen, zum anderen das Sezessionsrecht jeder einzelnen Gemeinde.
Ein Missbrauch des Vetorechts durch den Fürsten wiederum wird durch die Möglichkeit der Bürger zum Misstrauensvotum gegen ihn oder zur Abschaffung der Monarchie insgesamt (!) verhindert. In seinem Werk Der Staat im dritten Jahrtausend weist Fürst Hans-Adam II. darauf hin, dass für eine derartige Konstruktion keine Monarchie erforderlich sei. Ein direkt vom Volk gewählter Präsident könne dieselbe Aufgabe wie der Fürst in Liechtenstein übernehmen. Die aktuelle Landesverfassung von Liechtenstein ist somit eine der innovativsten der Welt, was die Machtbegrenzung in der Demokratie angeht, und das ist der alles entscheidende Punkt. Liechtenstein ist tatsächlich das einzige Land der Welt, dass seinen Gemeinden kraft Verfassung die Sezession und damit die Selbstbestimmung erlaubt. Eigentlich ist dies ein urdemokratischer Vorgang. Die Mehrheit eines Gebietes entscheidet per Volksabstimmung, unabhängig zu werden oder einem anderen Gemeinwesen anzugehören. Wären Sezessionen bis hinunter zur Gemeindeebene grundsätzlich zulässig, wie das in Liechtenstein der Fall ist, hätte die Regierung einen Anreiz, die Interessen der Regionen von vornherein stärker zu beachten. Hans-Adam II. hat erkannt, dass die Gewährung von Selbstbestimmungs- und damit Sezessionsrechten die Qualität staatlichen Handelns kraft Wettbewerb genauso erhöhen kann, wie dies im Produkt- und Dienstleistungsmarkt der Fall ist. Die Staaten müssen dann friedlich miteinander in Wettbewerb treten, um Ihren Kunden den bestmöglichen Service zum niedrigsten Preis anzubieten. Hans-Adam II. wörtlich:
„Der Umwandlungsprozess des Staates vom Halbgott in ein Dienstleistungsunternehmen wird nur möglich sein, wenn man von der indirekten auf die direkte Demokratie übergeht und mit dem Selbstbestimmungsrecht auf Gemeindeebene das Monopol des Staates aufbricht.“
Kleinstaat bedeutet nicht automatisch Abschottung
In Deutschland hätten sich bei gleicher Rechtslage vermutlich nicht nur die Exklave Büsingen, sondern diverse süddeutsche Gemeinden längst der Schweiz angeschlossen. Das hätte wiederum die Politik erheblich vorsichtiger bei ihren Maßnahmen gemacht, denn andernfalls drohte ja ein weiterer Verlust von Staatsgebiet und Staatsbürgern (= Macht).
Wir sollten daher darüber nachdenken, ob eine Welt aus tausend Liechtensteins nicht eine bessere Welt wäre. Die meisten Entscheidungen würden auf lokaler Ebene und dezentral getroffen, gravierende Fehlentscheidungen hätten begrenzte Auswirkungen, es gäbe zahlreiche Anschauungsbeispiele, welche Dinge funktionieren und welche nicht. Allein aufgrund der Vielzahl von Gemeinwesen würde ein fruchtbarer Wettbewerb um „Kunden“ herrschen anstelle eines Staatenkartells, das die Bürger einerseits möglichst weitgehend melken und andererseits von allen Entscheidungen ausschließen will.
Gerade Europas Erfolgsrezept war immer die Vielfalt und der damit verbundene Wettbewerb. Das muss nicht Schwäche bedeuten. Selbst Stadtstaaten wie Venedig und Genua oder größenmäßig eher marginale Staaten wie Portugal und die Niederlande konnten zu ihren Hochzeiten große politische und wirtschaftliche Macht entfalten. Die Schaffung übergeordneter Institutionen, wie eine gemeinsame Freihandels- oder Wirtschaftszone oder eine gemeinsame Verteidigung, ist immer möglich und insbesondere bei wesensverwandten Gemeinwesen auch naheliegend. Man denke etwa an den Städtebund der Hanse oder auch den Deutschen Bund, einem Bündnis 39 souveräner Staaten, der gemeinsame politische und militärische Institutionen unterhielt. Kleinstaaten bedeutet nicht automatisch Abschottung oder Provinzdenken, aber in jedem Fall Selbstverwaltung und Subsidiarität. Und das eröffnet Möglichkeiten, die woanders fehlen.
Verglichen mit Deutschland ist gerade das kleine Liechtenstein ein Musterbeispiel für Systemrobustheit oder Antifragilität. Ein antifragiles System ist eines, das weniger Ausschläge aufweist, dafür über einen weit längeren Zeitraum stabil und letztlich erfolgreicher ist. Den Gegensatz dazu bilden fragile Systeme, die eine Zeit lang gut aussehen, dann aber in regelmäßigen Abständen katastrophal zusammenbrechen.
Bis zum Jahr 1866 waren Liechtenstein und das heutige Deutschland im erwähnten Deutschen Bund vereint. Ähnlich wie derzeit der intellektuelle Mainstream einen europäischen Bundesstaat anstrebt, war seinerzeit die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates das Maß aller Dinge. Als nach der Schlacht von Königgrätz klar wurde, dass Preußen, welches den Fortbestand des Deutschen Bundes ablehnte, das Zentrum dieses neuen Staates sein würde, wurde von den Mitgliedsstaaten seine Aufhebung beschlossen. Ein einziges Mitglied stimmte damals dagegen: Liechtenstein.
Was in der Folge mit Deutschland geschah, ist bekannt: Einigungskriege, Kolonialismus, Erster Weltkrieg, zwei Millionen eigene Kriegstote, Verlust eines Viertels des Staatsgebietes, Revolution, Hyperinflation, Währungsreform mit Verlust nahezu aller Ersparnisse, nationalsozialistische Diktatur, Zweiter Weltkrieg, Holocaust mit Auslöschung der jüdischen Mitbürger und ihrer Kultur, sechseinhalb Millionen eigene Kriegstote, Verlust eines weiteren Drittels des Staatsgebietes, fast alle Städte zerbombt, Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen, Teilung des Landes in Besatzungszonen, erneute Währungsreform mit Verlust nahezu aller Ersparnisse, sozialistische Diktatur im Ostteil, dort Revolution und erneute Währungsreform. Insgesamt gab es sage und schreibe vier Systemzusammenbrüche seit 1870. Demgegenüber in Liechtenstein: null.
Heute verfügt das Fürstentum Liechtenstein über ein weit höheres Pro-Kopf-Einkommen als die Bundesrepublik Deutschland, ist ein stabiles Land ohne nennenswerte Kriminalität und ohne Staatsschulden. All dies wurde erreicht ohne einen einzigen Krieg, ohne eine einzige Revolution und ohne einen einzigen Anschluss an ein großes und mächtiges Gemeinwesen.